Der Waldspaziergang

Im Sommer 2020 entstand diese Tonaufnahme.
Sie ist hier als Audio verfügbar oder kann als bereinigter Text gelesen werden.

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Joseph:
Willkommen beim Waldspaziergang. Die Idee dieser Aufnahme ist es, zu erklären, was die Philosophie der Herangehensweise hinter dem ist, was ich die Praxis nenne, und meiner Philosophie generell.
Ich hatte zuerst gedacht, dass ich mehrere Teile aufnehme, mehrere Waldspaziergänge, habe mich aber dafür entschieden, den Versuch zu wagen, alles als Gespräch auf einmal aufzunehmen. Ich dachte zuerst, dass ich mir Notizen mache für die einzelnen Teile und dann die Notizen abarbeite. Doch das fühlte sich für mich so an, als wäre es nicht dem Medium entsprechend. Sprechen ist anders als schreiben. Schreiben ist langsamer, man macht sich viele Gedanken, allein dadurch, dass das Schreiben an sich schon langsamer ist als das Sprechen, aber auch, weil man oft mehr Zeit in die Vorbereitung steckt, weil das Schreiben etwas Permanenteres hat. Natürlich hat eine Tonaufnahme immer auch etwas Permanentes, aber trotzdem ist das gesprochene Medium meinem Gefühl nach noch mal etwas anderes. Deswegen ist dies mein Versuch, zu erklären, worum es mir geht. Weil ich mir aber bewusst bin, dass es nicht so einfach ist, hier vor mich her zu sprechen, bin ich nicht alleine, sondern Maxi ist dabei als mein Gesprächspartner für diesen Diskurs. Es gibt noch einen anderen wichtigen Punkt: Wir gehen hier im Wald spazieren, bewegen uns also fort, sind nicht statisch oder sitzen drinnen. Das generiert noch mal andere Gedanken. Wenn ich sitze oder drinnen bin oder liege oder wenn ich in der Stadt bin im Vergleich zum Land oder zur Natur, dann erzeugt das immer jeweils andere Gedanken und andere Assoziationen, weil ich andere Dinge sehe, höre, fühle, rieche …
Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass ich im Gehen und im Wald aufnehmen wollte. Entsprechend hört man auch viele natürliche Geräusche: die Vögel, den Wind. Man wird wahrscheinlich auch ein Flugzeug hören, weil wir hier in der Nähe einer Flugschneise sind. Das heißt, das ist schon die erste Entscheidung, die vielleicht erstmal nicht so bedeutend wirkt, aber die ein bestimmtes Ergebnis erzeugt, das anders wäre, wenn diese Aufnahme drinnen im Sitzen stattfinden würde.

Ich will damit beginnen zu erklären, was die Praxis ist. Die Praxis bedeutet für uns, sich zu verändern, zu lernen und auch zu handeln und Verantwortung zu übernehmen für den eigenen Lebenswandel, den eigenen Lebensweg. Das steht in Kontrast zu dem Gefühl, das heute bei vielen vorherrscht, dass sie nur ein winziger Teil von einem großen Ganzen oder einer Maschinerie sind und selbst nicht viel Entscheidungsfreiheit über ihre eigenen Belange haben, weil wir so eine komplexe Gesellschaft sind, die oft auch erdrückend sein kann für die eigene Entscheidungskraft. Das Wort Freiheit wird öfter vorkommen und das Wort Verantwortung – Verantwortung in dem Sinne, dass wir sie für unser eigenes Handeln übernehmen, aber auch Verantwortung für das, was um uns herum ist. Im Englischen würde ich das “self-care” und “world-care” nennen. Im Deutschen kann man dazu “Selbstfürsorge” und “Fürsorge für das, was einen umgibt” sagen. Selbstfürsorge ist ein Begriff, der in den letzten Jahren immer stärker aufgekommen ist, wahrscheinlich weil es ein Ausbalancieren ist zum mechanistischen Denken, wo der Mensch arbeitet und nach der Arbeit konsumiert. Konsumieren in dem Sinne, wie es oft betrieben wird: Der Mensch wird weiter manipuliert und ihm wird suggeriert, was er braucht, ohne dass er es wirklich braucht. Das ist keine eigentliche Selbstfürsorge. Selbstfürsorge ist etwas anderes, und das müssen viele Menschen auch erstmal lernen, weil wir eben nicht so erzogen sind, für uns selbst zu sorgen. Darauf werde ich später zurückkommen.

Was heißt also Verantwortung für sich selbst zu übernehmen? Das heißt, dass ich mir meiner Fähigkeit zu handeln bewusst bin. Immanuel Kant hat das Essay “Was ist Aufklärung” geschrieben, ein ganz grandioses Essay, in dem er versucht darzulegen, worum es seiner Meinung nach bei dem Begriff Aufklärung oder bei der philosophischen Richtung Aufklärung geht. Er sagt dort, dass Aufklärung bedeutet, dass man sich seines eigenen Verstandes bewusst wird, seiner eigenen Verstandeskraft, und die auch benutzt.
Dementsprechend würde ich sagen, dass Praxis bedeutet, dass man sich seiner eigenen Handlungsfähigkeit bewusst wird und auch seiner eigenen Handlungsverantwortung und einem so klar wird, dass man handeln kann. Durch Handlung erschaffe ich immer Veränderung. Wenn ich frei und nach meiner Vernunft handele, erschaffe ich Veränderung. Und ich kann Veränderung in MIR erzeugen. Ich kann Veränderung in der Welt erzeugen, aber im Grunde bin ich ja nicht losgelöst von der Welt, sondern ich bin die Welt, die Umgebung, und wenn ich handele, dann kann ich zwar - um das einfacher zu kategorisieren für unseren Intellekt - sagen: Das ist mehr für mich, das ist Selbstfürsorge oder das ist mehr Weltfürsorge, da geht es also mehr um das, was ich empfinde als außerhalb von mir. Aber im Endeffekt ist das immer reziprok, das resoniert miteinander, beeinflusst einander. Ja, wenn ich mich um mich selbst kümmere, dann wird das auch der Welt gut tun, und wenn ich der Welt gut tue, dann wird es mir auch gut tun. So lange das in der richtigen Balance ist … Ich kann mich oder die Welt auch aufgeben, indem ich mich nur um alles kümmere, was ich als außerhalb von mir empfinde, als das, was meinen Leib umgibt. Das kann dann dazu führen, dass ich ausbrenne. Oder wenn ich mich nur um mich selbst kümmere, nur noch Selbstfürsorge betreibe, dann kann das Bedeutungslosigkeit schaffen, was vielleicht eine der größten Erkrankungen ist, der wir in unserer Gesellschaft heutzutage mit einer gewissen Dauerhaftigkeit ausgesetzt sind.
Die Praxis heißt auch Bedeutung schaffen. Denn Verantwortung übernehmen, heißt bedeutungsvoll handeln und Bedeutung schaffen. Wenn ich Verantwortung für mich übernehme und für das, was um mich herum geschieht, dann lebe ich ein bedeutungsgefülltes Leben. Dann habe ich zumindest das Gefühl, dass jedes Leben grundlegend bedeutungsvoll ist. Es kann uns aber das Gefühl beschleichen, dass wir uns selbst nicht unserer eigenen Handlungsfähigkeit bewusst sind, wenn wir sehr mechanistisch agieren, dass wir in den Strudel der empfundenen Bedeutungslosigkeit fallen. Praxis heißt also handeln, heißt Verantwortung übernehmen und diese Verantwortung, diese Arten der Fürsorge in die Balance zu bringen. Balance ist für unsere Praxis grundlegend. Ich kann mich zum Beispiel ohne Weiteres längere Zeit hauptsächlich auf die Selbstfürsorge konzentrieren, jahrelang. Doch irgendwann kommt dieser Punkt, an dem ich es wieder ausbalancieren werde und mich mehr um die Weltfürsorge kümmere.
Und anders herum natürlich auch. Es heißt also nicht, dass ich immer alles gleichzeitig machen muss, sondern in Phasen, in denen sich die Dinge abwechseln. Ich kann in dem Sinne auch sehr extrem sein, auf der eine Seite für eine Zeit, und dann wieder mehr in die Balance kommen, in dem ich eine mehr ausgeglichene Praxis habe, oder in dem ich mehr ins andere Extrem gehe. Balance ist es also in dem Sinne, dass ich auf die lange Zeit gucke, nicht nur auf den Moment. Das Extreme ist sehr wohl auch kraftvoll und wichtig für uns.

Mehrmals habe ich schon den Begriff der Freiheit genannt, und wenn ich mir also meiner Handlungsfähigkeit bewusst bin, dann bedeutet das Freiheit, und wenn ich mir mehr Handlungsmöglichkeiten schaffe durch das Lernen, Üben, Praktizieren, Trainieren, dann erringe ich dadurch auch wieder mehr Freiheit und kann mehr Verantwortung übernehmen. Jetzt habe ich die Begriffe Training, Üben, Praktizieren, Lernen eingeführt, und man kann hier unterscheiden zwischen etwas lernen und etwas üben. Diese Unterscheidung habe ich von Karl Popper übernommen. Wenn ich etwas lerne, bedeutet das, dass ich es wirklich zum ersten Mal mache. Das ist ein ganz, ganz großer Schritt. Im Vergleich dazu steht das Üben oder Trainieren, welches bedeutet, dass ich etwas, was ich schon gelernt habe, versuche zu verbessern oder einfacher für mich zu machen. Üben und Trainieren benutze ich als Synonyme. Wenn ich etwas das erste Mal mache, dann ist das wie ein Sprung ins Wasser, oft auch nicht ins klare Wasser. Ich weiß nicht unbedingt, was passiert. Je weiter ich von dem weg bin, was ich neu lerne, umso trüber ist das Wasser, in das ich springe. Wenn ich mit dem, was ich davor schon oft gemacht habe, nah dran bin, dann ist der Schritt des Lernens nicht so groß. Üben und Lernen sind hier in einer wichtigen Balance zu betrachten. Wenn ich etwas zum ersten Mal lerne, kann ich es üben; und wenn ich dann Dinge geübt habe, kann ich dadurch auch wieder neue Sachen lernen oder einfacher neue Sachen lernen. Oder ich lerne schon im Prozess des Übens etwas Neues. Lernen und üben gehen also nahtlos ineinander über.
Kinder lernen permanent, jeden Tag. Doch mit der Zeit lernen die Leute immer weniger, stellen sich keinen neuen Herausforderungen. Lernen braucht den Mut, sich etwas Neuem zu öffnen. Man könnte auch sagen, es braucht Lebensfreude, eine positive Lebenseinstellung, um etwas zu lernen. Wenn man älter wird, dann scheint es mir so, dass viele sich in dem, was sie kennen, einmauern. Vielleicht üben sie noch, aber sie lernen nicht mehr.
Teil unserer Praxis ist es, dieses Lernen beizubehalten. Ich begebe mich also immer wieder in diese Situation, in der ich ins Wasser springe, setze mich dem Neuen aus, beginne das Abenteuer und lerne Neues. Wenn ich allerdings immer nur lerne und das Gelernte nicht tiefergehend betrachte, es übe, wird das meine Möglichkeiten zu lernen auf einer seichten Ebene belassen.

Durch das Üben werden mir also immer wieder neue Möglichkeiten des Lernens eröffnet. Üben und lernen müssen wieder in Balance gebracht werden – und in dem Sinne auch der weite Blick, der Weitwinkelblick, und der Fokus. Weitwinkelblick auf der physischen Ebene bedeutet, dass man nicht fokussiert, dass man alles gleich sieht, und das ist gerade hier, wo wir im Wald sind, relativ leicht.
In der Stadt funktioniert das allerdings weniger, weil da viele Dinge unsere Aufmerksamkeit fordern. Werbung zum Beispiel oder andere Menschen. Hier im Wald, wo eine gewisse Gleichförmigkeit, auch Gleichmütigkeit herrscht, fordert nichts permanent unsere Aufmerksamkeit. Hier ein Vogel, da ein bestimmter Baum, aber der Grundblick im Wald ist der Weitwinkelblick. Er steht für einen ganz anderen Modus des Seins als der fokussierte Blick. Beide haben ihren wichtigen Platz; es geht wiederum um die Balance zwischen diesen beiden und um die Möglichkeit des Wechsels. Der Weitwinkelblick lässt mich also alles überschauen, als würde ich eine Karte auf einem Tisch ausbreiten und mir erstmal alles angucken. Der Fokus läge darauf, dass ich mir ein Gebiet auf dieser Karte ganz genau angucke, dort in die Tiefe gehe. Fokus lässt mich Details genau sehen, aber es kann passieren, dass ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sehe. Der Weitwinkelblick hingegen lässt mich den ganzen Wald sehen, birgt aber gleichzeitig die Gefahr, dass ich die Details eines Baumes, eines Blattes nicht erkennen kann. Deswegen wechselt man zwischen diesen Formen, und genauso ist es im Praktizieren. Eine grundlegende Idee unserer Praxis ist, dass sie breit gefächert ist – eine umfassende Praxis also, bei der es zu Beginn darum geht, die Karte auf dem Tisch auszubreiten, statt sich nur mit ganz bestimmten Disziplinen zu beschäftigen.
Wir wollen uns erstmal angucken: Was ist da? Was sind Dinge, die einfach in der Welt sind? Oder auch die, die Menschen geschaffen haben. Danach können wir bestimmte Punkte näher betrachten und uns darauf fokussieren, was exemplarische Elemente dieser Praxis sind. So ähnlich ist es auch mit dem Lernen und dem Üben. Ich bin offen für Neues, sehe mir aber auch das, was ich jetzt kennengelernt habe, genauer an. Ein gutes Beispiel dafür, wie man aus dem eigenen Fokus profitieren kann, ist der Sushi-Koch Jiro aus der Dokumentation “Jiro Dreams of Sushi”. In der Dokumentation sieht man Jiro, der als einer der besten Sushi-Köche, wenn nicht als der beste Sushi-Koch gilt, der sein ganzes Sein dem hingegeben hat, das beste Sushi der Welt zu machen. Es ist eine ganz grandiose Dokumentation, weil sie etwas zeigt, das heutzutage nur noch selten stattfindet: diese Handwerklichkeit, diese Liebe zum eigenen Handwerk, und das einfach so gut wie möglich zu machen. Wo es nicht um ökonomische Vorteile geht, sondern um die Ehre, um die eigene Würde, das, was man macht, so gut wie möglich zu machen, Verantwortung zu übernehmen für das, was man tut, und sich dem hinzugeben, sich aufzuopfern für dieses Handwerk.

Maxi:
Weil du gerade beim Handwerk bist: Inwieweit spielt dabei die digitale Ära eine Rolle? Unterscheidest du zwischen jemandem, der eine Software entwickelt und jemandem, der ein klassisches Handwerk betreibt und mit seinen Händen etwas Materielles umgestaltet?

Joseph:
Ich bin ein bisschen unschlüssig. Zum einen ist das Digitale sehr kreativ, es gibt sehr viele Möglichkeiten, die man teilweise physisch gar nicht hat, zum Beispiel Welten zu erschaffen, Interaktion zu erschaffen. Das sind Möglichkeiten, die über das hinausgehen, was physisch machbar ist. Das ist, als würde ich eine Geschichte erzählen. Ich denke mir Dinge aus, die es in der Realität so gar nicht gibt. In diesem Sinne bietet das Digitale auch für die Kreativität ganz große Möglichkeiten.
Aber es fehlt das Physische. Nicht komplett, denn das Digitale muss ja immer physisch manifestiert sein. Aber, ob ich am Computer z. B. eine Welt designe oder etwas schreibe, das ist physisch teilweise sehr nah beieinander. Obwohl es natürlich Unterschiede dabei gibt, den digitalen Zeichenstift in die Hand zu nehmen oder zu tippen. Der Zeichner ist physisch sehr aktiv. Zugleich hat das Digitale eine ganz große Physis in dem Sinne, dass ich mir auch Dinge vorstelle, die aus dem physischen Leben kommen, aus dem physischen Erleben. Allerdings ist die Balance ein bisschen anders als beim Handwerk. Wenn ich mit Holz arbeite, habe ich die selbe Vorstellungskraft, die ich beim Digitalen nutze, die ich da übe. Gleichzeitig führe ich aber auch viele verschiedenen handwerkliche Bewegungen aus. Ich nutze verschiedene Werkzeuge wie Säge, Hammer, Axt, die alle unterschiedlich funktionieren. Gleichzeitig unterscheiden sich auch die Materialien grundlegend:
Holz ist ganz anders als Stein, als Lehm, als Stoff und ich habe das Gefühl, dass ich beim Digitalen fühle, dass meine Physis nicht so angesprochen wird wie bei diesen handwerklichen Tätigkeiten, die fassbarer sind, greifbarer. Beim Digitalen kann ich das, was ich designe, nicht anfassen. Es ist nur Code, den ich angucken oder anhören kann, aber es fehlt das, was ich in der Hand halten kann.
Der Begriff „Handwerk“ ist auf die Hand bezogen, genau wie „Handlung“. Ich habe in dem Sinne gar nichts gegen das Digitale. Aber ich glaube, dass es definitiv nicht das Handwerk ersetzen kann, das, was durch das Handwerk passiert: dieses physische Können, dieses Gefühl des in-der-Welt-Seins und die Möglichkeit, die Welt zu verändern. Dadurch nimmt man die Welt ganz stark wahr, weil man sie wirklich auf dieser physischen Ebene sehr stark verändern kann. Das ist nichts, was man nicht anfassen kann, was wieder verschwindet, sobald der Strom weg ist. Ich möchte noch einmal zurückkommen auf das Handwerk im Vergleich zum physischen Training, bei dem man sich selbst bewegt. Da unterscheide ich zwischen physischen Handlungen, mit denen ich die Welt verändere, indem ich Dinge einerseits zum Beispiel neu positioniere oder sie andererseits verändere.
Man kann also zwischen Herstellen und Verstellen unterscheiden. Verstellen ist also, wenn ich z. B. etwas werfe oder schiebe oder trage und es sich dadurch im Raum woanders als zuvor befindet. Das Herstellen ist wirklich die Veränderung eines Objekts, also mit der Axt das Holz bearbeiten, mit der Nadel zwei Stoffteile zusammennähen und so weiter. Und das steht auf eine gewisse Art und Weise in einer Balance zum Bewegen des Selbst, sich durch die Umgebung bewegen - so wie wir gerade. Gehen, klettern, springen … Also ICH verändere mich.
Ich kann mich auch durch das Training verändern: durch Krafttraining, durch Mobilitätstraining. Im Grunde verändert mich alle Bewegung. Auch Handwerk ist eine Bewegung, also ist die Trennung nicht ganz einfach. Gleichzeitig verändere ich natürlich auch die Welt, indem ich hier mit meinen Füßen den Boden berühre, meine Schritte mache oder Sauerstoff einatme und CO2 ausatme, aber es ist wiederum die Kategorisierung. Ich habe beim Handwerk die Möglichkeit zu erfahren, dass ich die Welt verändern kann.
Ja, ich baue etwas, z. B. ein Haus. Dadurch, dass ich ein Haus gebaut habe, habe ich wirklich die Welt verändert. Oder ich fertige aus einem Stück Holz eine Figur oder einen Löffel und verändere dadurch die Welt. Im physischen Training, wo wir uns selbst bewegen und verändern, kann ich also realisieren, dass ich mich selbst verändern kann, und das beides (Handwerk & Bewegung) kombiniert steht wieder im Verhältnis zur Selbstfürsorge und zur Weltfürsorge.

Das Handwerk steht also in Beziehung zur Weltfürsorge, und das physische Training meiner selbst - das physische Bewegen, Praktizieren meiner selbst - steht für die Selbstfürsorge. Das sind, wie gesagt, nur Kategorisierungen, die der Realität nicht standhalten, die mir aber helfen, darüber zu sprechen. Deswegen sehe ich Handwerk wirklich auch als etwas sehr Wichtiges, weil ich empfinde: Ich bin nicht einfach in die Welt geworfen und jetzt passieren hier Dinge, sondern ich kann die Welt aktiv mitgestalten. Zum Beispiel durch meine Hände, aber auch durch mein physisches Dasein an sich gestalte ich die Welt mit. Ich kann mich dem gar nicht entziehen, dass ich das tue. Und wenn ich mich dem nicht entziehen kann, dann heißt das, dass ich dafür Verantwortung übernehmen MUSS, obwohl ich nicht gerne mit Imperativen agiere. Aber es fühlt sich so an, dass ich gegenüber diesem Leben, was uns geschenkt ist, die Verantwortung habe, es mit Wertschätzung zu behandeln.
Wertschätzung für das Leben, Wertschätzung für diese Welt, für diese magische Welt, in der wir einfach da sind - relativ plötzlich da sind. Die Welt ist schon Milliarden Jahre alt, und wir sind plötzlich da. Kurz. Manche nur vielleicht 30, 40, 50 Jahre, andere 70, 80, 90, 100 Jahre, aber im Vergleich zum Alter der Welt relativ kurz. Und in dieser kurzen Zeit gibt es viel zu entdecken. Wir können niemals alles entdecken, was es dort zu entdecken gibt. Aber wir können doch einiges entdecken in unserer Zeit und im Grunde Abenteurer sein, die sich auf diese Reise begeben, indem sie lernen, üben, praktizieren, Verantwortung übernehmen und schauen, was hier ist, in dieser Welt. Was findet statt, wie ist die Welt und wie sind die Menschen? Die Menschen kennenzulernen, die Welt kennenzulernen, und sich selbst, der man selbst ein unendlicher Kosmos ist, ein Universum in sich selbst, das allein ist schon schwierig zu ergründen.

Ich komme nun auf die verschiedenen Elemente unserer Praxis zurück. An sich ist die Praxis offen. Zuerst ist es die Philosophie – die Philosophie, das Leben zu entdecken. Entdecken ist auch ein schönes deutsches Wort: Man nimmt die Decke ab vom Leben und schaut, was ist da, was findet statt. dann liegt es in der eigenen Verantwortung herauszufinden: Wie entdecke ich denn das Leben?
Allerdings gibt es für uns Sachen, mit denen wir viel Zeit verbringen, die wir den Menschen gerne zeigen, weil es für uns Sachen sind, die Sinn ergeben. Wie gesagt: ohne Muss – wie bei der physischen Praxis, bei der ich entdecke, wie ich mich bewege, wie ich meine Physis verändern kann z. B. beim Kraft- oder Beweglichkeits- oder Ausdauertraining, aber auch wirkliche Skills wie klettern, tanzen, schwimmen, laufen, kämpfen … auch kommunizieren mit anderen Menschen. Das ist auch eine Art der Physis, auf die ich noch zurückkommen werde. … Fähigkeiten, oder besser Fertigkeiten, die für ein gewisses Können stehen im Zusammenhang mit dem Leben in der Welt. Wie bewege ich mich durch die Welt, wie kann ich mich meiner Haut erwehren oder in die Expression meines Seins und meiner Gefühle gehen durch Tanzen oder Singen.
Und dann haben wir das Handwerk und das Verändern der Welt, also das Bewegen und Verstellen von Objekten, das Werfen und Fangen und Schießen mit den Beinen und viele verschiedene Formen des Handwerkens, z. B. das Arbeiten mit Holz, Metall, Stein. Alle diese Formen des Handwerkens mit ihren unterschiedlichen Materialien haben verschiedene Prinzipien. Wenn ich Holz bearbeite, nehme ich hauptsächlich etwas weg, ich schneide Sachen zu und kann dann wieder Dinge zusammenfügen. Bei der Holzbearbeitung ist es so, dass nichts miteinander verschmilzt. Das ist anders als bei der Bearbeitung von Ton oder Lehm, wo Dinge wirklich miteinander verschmelzen. Danach sind die einzelnen Teile nicht mehr zu sehen.
Oder das Bearbeiten von Metall, wo ich auch Dinge biegen kann, in der Form verändern kann. Das ist ein Hauptelement der Metallverarbeitung, was z. B. mit Holz auch machbar ist, aber viel seltener vorkommt als das Zuschneiden. Das heißt, da gibt es viel zu entdecken, verschiedene Formen des Handwerks, auch des digitalen Handwerks. Es gibt noch weitere Aspekte. Ich habe gerade schon den Teil der Kommunikation angesprochen, der Teil der Physis ist, den man aber auch einzeln betrachten kann: Die Kommunikation mit anderen Menschen ist auch ein Universum für sich. Wie kann ich z. B. konfliktfrei kommunizieren, Konflikte lösen, kommunizieren was mir wichtig ist und gleichzeitig zuhören.
Viele von uns stehen vor dem Problem, dass das, was wir sagen wollen, nicht so verstanden wird, wie wir es sagen wollten. Das heißt, auch hier kann ein gewisses Können gelernt werden und ein Verständnis, Wissen davon, wie die Welt funktioniert. Kommunikation ist sehr physisch. Wenn ich vor jemandem stehe oder mit jemandem telefoniere und derjenige hört meiner Stimme, dann findet Kommunikation ganz stark auf dieser Leibesebene statt. Wenn ich vor jemandem stehe, gestikuliere ich, habe eine bestimmte Körperhaltung, die ich einnehme, je nachdem, was ich sagen möchte. Meine Empfehlung dazu ist das Werk von Marshall Rosenberg, „Gewaltfreie Kommunikation“, oder Thomas Gordon, dessen Werk dem von Marshall Rosenberg sehr ähnlich ist. Bei beiden kann man sehr viel darüber lernen, gewaltfrei zu kommunizieren beziehungsweise Konflikte zu lösen.
Dann ist ein großer Teil unserer Praxis das Kognitive, das Geistige, und das hat sehr viele verschiedene Unterpunkte: Meditation, Kontemplation, Reflexion, Logik, also verschiedene Formen, den Geist zu gebrauchen. Wobei Meditation definitiv ein sehr wichtiger Teil für uns ist, da man dabei sehr viel über sich und die Welt lernt. Das ist der Grundcharakter der Praxis, von dem wir schon gesprochen haben. Grundlegend heißt Meditation, wie wir sie betreiben, beobachten. Beobachten des Selbst, loslassen, Wertungsfreiheit. Wenn wir normalerweise Dinge beobachten, drücken wir ihnen automatisch einen Wertungsstempel auf. Das macht das freie Entdecken und Wahrnehmen der Welt sehr schwierig. Deswegen ist die Meditation grundlegend für das was wir tun. Es gibt interessante Praktiken, die helfen können, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, z. B. verschiedene Formen der buddhistischen Meditation, wie Vipassana.
Jetzt stellt sich die Frage: Können wir die Welt überhaupt jemals so sehen, wie sie wirklich ist? Und das wollen wir nicht beantworten, denn diese Frage kann nicht beantwortet werden. Was wir aber sagen können, ist: Wir können zumindest gewisse Filter aus unserer Wahrnehmung herausnehmen, und das hilft uns, die Welt anders zu betrachten.

Maxi:
Du hast die physische und die kognitive Praxis erwähnt. Draußen in der Natur sein, Survival, Tiere beobachten - fällt das in die physische Praxis oder hast du dafür eigene Kategorien?

Joseph:
Ich würde fast sagen, das ist eine eigene Kategorie. Ich betone aber noch mal: Diese Kategorisierung besteht nur, um darüber zu sprechen, nicht, weil das wirklich wichtig ist, sondern um das zu kommunizieren, genau dieses große Thema Natur, Wildnis, draußen sein, beobachten. Man lernt da ganz viel zu beobachten. Gerade wenn man in der Stadt aufgewachsen ist, dort viel unterwegs ist, fehlt manchmal diese diese Gabe, langsam zu beobachten, weil in der Stadt alles so schnell ist. Dort bewegt man sich auch viel schneller als im Wald. Viele Städter, die in den Wald kommen, gehen dort auch sehr schnell, obwohl es gar nicht nötig ist. Wenn man in der Stadt langsam geht, wirkt das seltsam auf die anderen Menschen. In der Natur zu sein, heißt gar nicht unbedingt, dass ich in der Natur sein muss, sondern es ist ein Konzept. Es ist eine Idee, dass ich in ein anderes Sein trete als das städtische Sein. Das kann ich selbst in der Stadt machen. Wildnis. In die Wildniskategorie fallen auch einfache, grundlegende Fähigkeiten, die wir Menschen lange Zeit konnten, heute aber zu großen Teilen vergessen haben. Wie kann ich diese Fähigkeiten üben? Feuer machen, eine Unterkunft bauen, welche Pflanzen sind essbar, Tiere beobachten oder jagen – das sind ganz archaische, grundlegende Erfahrungen für den Menschen.
Wenn wir jemandem zeigen, wie man mit einem Drillbogen Feuer macht – also mit einer steinzeitlichen Technik – hat das immer denselben Effekt.

Wenn es jemand zum ersten Mal schafft, ohne jegliche Technik des 21. Jahrhunderts, so ein Feuer zu entfachen, dann ist das eine bleibende, grundlegende Erfahrung.

Solche archaischen Handlungen, solche Erfahrungen sind unheimlich kraftvoll und sagen uns sehr viel über die Welt und das Menschsein. Ich habe schon mehrfach darauf Bezug genommen, dass man heutzutage Dinge nicht mehr so macht wie früher. In der Art und Weise, wie wir die Praxis betreiben, ist es also immer ein Ausbalancieren zur Gesellschaft. Wenn man die Dinge sowieso so macht, dann muss ich sie nicht noch mal gesondert ansprechen.
Aber wir haben ganz viel den Kontakt zur Natur verloren, auch zur eigenen Physis, weil wir ein unphysisches Leben leben. Das hat auch damit zu tun, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es nicht normal ist, sich physisch zu betätigen. Beziehungsweise ist das sehr eingeschränkt: Niemand tanzt einfach auf der Straße. Es gibt bestimmte Bewegungen, die man beispielsweise im Training ausführt, bestimmte Handlungen, die gesellschaftlich anerkannt sind.
Wie ist das zum Beispiel mit dem Barfußlaufen? Wir tragen draußen die meiste Zeit Schuhe. Es gibt bestimmte Orte, da ist es erlaubt, barfuß zu sein, z.B. am Strand. Da ist es ganz normal, barfuß zu sein. Aber wenn ich einfach barfuß an einem Ort bin, wo es nicht normal ist, wie im Wald, dann ist es seltsam für andere Menschen, wenn dort jemand barfuß läuft. Das sind Konventionen. Und ich versuche mit der Praxis, solche Konventionen aufzubrechen für die Leute, die dadurch unnötig eingeschränkt sind, damit sie wieder freier sind. Warum sollen sich Menschen seltsam fühlen, wenn sie barfuß im Wald laufen? Dafür gibt es keinen sinnvollen Grund, dennoch tun sie es.
Es existieren diese ganzen Konventionen, wie wir uns bewegen sollen, wie unsere Körperhaltung sein sollte, wie wir sprechen sollten und vieles mehr. Wir leben in einer komplexen Gesellschaft und versuchen, gut miteinander zurecht zu kommen, was natürlich ein hohes, wichtiges Ziel ist. Aber es gibt viele Kollateralschäden, die unnötig sind. Einer meiner Lehrer in der Schule hatte immer ein gutes Beispiel: In einer Schule gab es eine Baustelle, weswegen man den Eingang nicht benutzen konnte. Irgendwann war die Baustelle wieder weg, aber die Regel blieb da. Dieser Eingang durfte weiterhin nicht benutzen werden, obwohl es keinen Grund mehr dafür gab. So etwas mag uns häufig passieren. Wir haben Regeln, Dinge die wir auf eine bestimmte Art machen und wissen gar nicht mehr, was die Gründe dafür sind. Setzen wir uns hin und überlegen, warum das eigentlich so ist, dann kommen wir oft zu keiner sinnvollen Antwort.

Wildnis, das Wildnisthema, in der Natur sein, das ist sehr mit Handwerklichkeit verbunden, auch mit der eigenen Physis, aber auch mit dem Kognitiven, weil es ein bestimmter Seinszustand ist. In der Praxis geht es um die Arbeit mit der Wahrnehmung. Wahrnehmung ist ein schönes Wort: Man nimmt die Sachen wahr. Vielleicht könnte man sagen: Man sieht die Sachen so, wie sie sind. Man praktiziert seine Wahrnehmung, z. B. durch Meditation, aber auch grundlegend durch das Nutzen der eigenen Sinne. Durch das Hören, das Sehen, das Riechen, Schmecken, Fühlen.
Ich habe in einem Workshop von mir oft die Übung oder eher das Ereignis, dass ich Musik vorspiele und sage: „Jetzt setzen wir uns einfach hin und hören die Musik, machen nichts anderes.“ Oft ist es so, dass Teilnehmer sagen: “Ah, das habe ich noch nie im Leben gemacht.” Sie haben sich noch nie einfach hingesetzt, außer vielleicht bei einem Konzert, und WIRKLICH der Musik zugehört. Nichts anderes gemacht, nicht nachgedacht, nicht abgewaschen, nicht rumgezappelt, nicht Auto gefahren, sondern wahrgenommen, was in ihnen passiert durch die Musik. Also Wahrnehmung davon, wie die Umgebung auf uns wirkt, da entstehen die ganze Zeit Wechselwirkungen. Wenn die Vögel hier im Wald singen, passiert etwas mit uns.
Oder das Geräusch unserer Schritte auf dem Boden, das sich verändert, je nach Ort. Jetzt hier ein Weg, wo Schotter ist, dann bald wieder der Waldweg - diese Geräusche haben Wirkung auf uns. Und wenn wir sehr sensibel dafür sind, dann können wir das spüren. Was auch Teil unserer Praxis ist - wenn ich zurückkommen darf zu dieser Kategorisierung - ist das, was wir die Basics nennen, die Grundlagen. Das sind Sachen wie Kochen, Organisation und Struktur, also z. B. eine Struktur zu haben: Was will ich tun, was ist zu tun? Aber auch eine physische Struktur: Wo sind meine Sachen? Habe ich z. B. meinen Schlüssel immer am gleichen Ort, gibt mir das eine Handlungsfreiheit im Leben wieder, sodass ich nicht, wie man auf Englisch sagt, “all over the place” bin, sondern organisiert und strukturiert. Und die Fähigkeit, sich zu fokussieren.

Wir leben auf der einen Seite in einer Welt, in der der Weitwinkelblick nicht so viel stattfindet, und gleichzeitig fällt es schwer sich wirklich zu fokussieren, wirklich bei einer Sache zu bleiben. Weil nämlich … andauernd irgendwelche Ablenkungen kommen. E-Mails und Nachrichten und Werbung und Dies-und-das, und alles so was von einem möchte. Ich empfehle dazu gern das Buch von Cal Newport, “Deep Work”, “Konzentriert arbeiten” - am besten auf Englisch lesen. Zusammengefasst geht es darum, zu üben, fokussiert zu sein, beziehungsweise sich seine Umgebung dementsprechend aufzubauen. Das heißt, das Handy auszustellen oder gar nicht im Raum zu haben, sodass man eine Zeit lang nicht von anderen gestört wird. In dieser tiefen Fokussiertheit, die Newport „deep work“ nennt, steckt das, was ich vorhin geschrieben habe: Ich kann Details und Tiefen erkennen, die ich in der ständigen Abgelenktheit gar nicht entdecken kann. Ein ganz praktisches Beispiel ist, dass viele Leute irritiert sind, wenn sie nicht in Windeseile von mir eine Antwort bekommen auf ihre E-Mail. Würde ich aber die ganze Zeit an meinem Computer E-Mails beantworten, hätte ich niemals die Zeit, das, was wir machen, überhaupt zu entdecken. Das heißt, ich muss Abstriche machen in der Schnelligkeit meiner Kommunikation, die mir nicht schwerfallen, aber die für andere Leute teilweise ungewohnt sein können. Wie oft habe ich schon E-Mails noch ein zweites oder ein drittes Mal bekommen, weil ich nicht innerhalb von 24 Stunden geantwortet habe. Es ist einfach ungewöhnlich heutzutage, dass man zwei oder drei Tage warten muss auf eine Antwort. Meine Arbeit ist es nicht, E-Mails zu beantworten, sondern diese Praxis aufzustellen und zu erkunden.
Aber in der heutigen Schnelllebigkeit werden die Menschen fast schon ungemütlich, wenn nicht gleich wieder etwas passiert. Hier führe ich nun die Idee des Nichtstuns ein. Ich habe bereits viel über das Handeln gesprochen, über das Tun, das Machen und die Balance dazu - im Grunde könnte man sagen: Meditation. Aber ich gehe noch einen einfacheren Schritt, indem ich sage, das ist Nichtstun. Also nicht mal Meditation. Ich gehe nicht in die weite Wahrnehmung und fokussiere mich, sondern setze mich hin und tue nichts. Nicht mehr als das. Und das fällt uns unglaublich schwer, gerade wenn man so erzogen ist, dass man immer etwas machen muss. Selbst wenn dieses ‘irgendwie was machen‘ einfach nur Medienkonsum ist. Aber nur dazusitzen und lockerzulassen, die Muskulatur zu entspannen und wirklich nichts zu tun, keinem Gedanken zu folgen, aber die Gedanken gleichzeitig auch nicht wegzuschieben, auch nicht zu schlafen, sondern mit geöffneten Augen dazusitzen, mit dem Wissen: Es gibt jetzt nichts zu tun, es gibt keine Probleme zu lösen, es ist alles gut. Wenn man diese Fähigkeit hat, nichts zu tun und wirklich da sein zu können, ohne dass es die ganze Zeit an einem nagt: Ich müsste doch was tun, ich müsste doch was machen - dann hat man eine ganz große Freiheit erlangt, die Freiheit, nichts tun zu können.
Und wenn ich dann aus dieser Freiheit agiere, dass ich eigentlich nichts tun muss, dass ich mich nicht gezwungen fühle, aus irgendwelchen gesellschaftlichen Vorgaben, nützlich zu sein, mein Dasein zu rechtfertigen, dann kann ich mit einer ganz anderen Energie ins Handeln gehen. Nämlich mit dieser Energie, die aus MIR herauskommt, die nicht von außerhalb ist, und in ein kraftvolles, bedeutungsvolles Handeln gehen, was sich nicht roboterhaft anfühlt, weil ich das muss. Ich habe die Imperative bereits angesprochen, das Muss und das Soll. Eine Übung, die ich vorschlage, ist, einmal zu beobachten, wie viel man so etwas benutzt, wenn man über sich spricht: “Ich MUSS noch das machen. Ich SOLLTE noch das machen.” Das ist eine passive Sprache, bei der man sich selbst als Sklaven betrachtet und so tut, als wären es immer Dinge von außen, auf die man keine Wirkungsmacht hat, anstatt zu sagen: “Ich WILL das machen. Ich MÖCHTE das machen.” Und es wirkt oft, als bräuchten wir Ausreden, weil wir etwas Bestimmtes noch tun wollen oder möchten. Und dann sagen wir:
„Ich muss jetzt noch einkaufen gehen.“ Nein, du WILLST einkaufen gehen. Muss ist in dem Sinne logisch, wenn es sich wirklich um eine physische Begebenheit handelt. Zum Beispiel, wenn ich sage: „Ich will einkaufen, und ich will das bis zwölf Uhr gemacht haben. Jetzt ist es elf Uhr. Ich brauche eine Stunde, deswegen MUSS ich jetzt losgehen.“ Das ist eine logische Aussage. Daran gibt’s nichts zu meckern. Aber ich bin vorsichtiger dabei zu sagen, dass ich generell jetzt zum Supermarkt gehen muss. Nein, ich will dahin, und weil ich zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder zu Hause sein will, MUSS ich JETZT losgehen, wenn ich so meinen Willen durchsetzen möchte.
Wenn man beobachtet, wie man selbst spricht oder wie andere sprechen, merkt man, dass wir eine passive Sprache haben, in der wir die eigene Willenskraft, die eigene Handlungsmöglichkeit abwerten. Das hat also wieder viel mit Verantwortung übernehmen zu tun, Verantwortung für sich selbst, für das eigene Handeln. Diese Sprache lebt von „müssen“ und „sollen“, wobei ich Verantwortung an eine höhere Instanz abgebe, die mir sagt, was ich muss und soll, anstatt selbst zu entscheiden: „Ich will das, ich mache das jetzt so und das ist auch gut und richtig so.“

Maxi:
Aber wie ist es dann mit der Verantwortung selbst? Die muss oder soll man ja am Ende übernehmen.

Joseph:
Ja, es ist paradox, und vielleicht ist es akkurater, wenn ich sage: “Ich schlage vor, dass du Verantwortung übernehmen willst. Ich weise darauf hin, dass es doch interessant wäre, Verantwortung zu übernehmen.“ Wie ich schon sagte, ist es eine schwierige Aussage, dass ich es so empfinde, dass es fast ein Muss ist, Verantwortung zu übernehmen, wenn ich gleichzeitig sage, dass ich diese Imperative eigentlich versuche zu vermeiden. Mit der Ambivalenz muss ich jetzt erstmal leben.

Maxi:
Ich finde es auch gar nicht so leicht, herauszufinden, wie viel Verantwortung ich übernehmen will. Das hat ja auch ganz viel mit der Balance zwischen Selbstfürsorge und Weltfürsorge zu tun. Und es stellt sich die Frage, wie viel Verantwortung ich übernehmen kann mit meinen Kapazitäten, die ich momentan habe.

Joseph:
Ja, absolut. Das empfinde ich auch so. Dass das auch ein Herausfinden dessen ist, was meine Verantwortung ist. Wie nutze ich meine Handlungskraft, meine Verantwortung? Das heißt ja nicht, dass ich die ganze Welt verändern muss, überhaupt nicht. Das ist gar nicht die Aussage, die ich treffen will, denn auch im Kleinen lässt sich Verantwortung übernehmen. Es gibt ein Bild, das ich von Jozef Fruszek übernommen habe. Ich bin in Sibirien und dort gibt es kein Krankenhaus in der Nähe. Ich bin an einem Ort, der nur mit dem Hubschrauber erreichbar ist. Dort verhalte ich mich ganz anders, als in einer Stadt, in der es Krankenhäuser gibt und ich innerhalb von sieben Minuten abgeholt werden kann. Das heißt, in so einer Umgebung werde ich eine andere Verantwortung für mich selbst übernehmen, weil ich weiß: Wenn ich mir jetzt hier mit der Axt ins Bein hacke, dann kann das böse enden. In der Stadt geben wir die Verantwortung nicht ab, übernehmen aber weniger davon.

Das zeigt sich ganz gut an Extremsportarten, die für die “breite Masse” nur funktionieren können, wenn es ein medizinisches System gibt, das dies erlaubt. Wenn ich also in den Bergen bin, und dort gibt es die Bergwacht mit ihrem Hubschrauber, und ich habe Handyempfang, dann kann ich querfeldein laufen, also mit den Skiern vom Wege ab, von den Loipen, irgendwo ins Hinterland. Wenn ich mich da verirre oder von einer Lawine erfasst werde, dann kann ich Hilfe rufen. Nicht dass das immer wirklich funktioniert, aber das ist die Herangehensweise. Die Bergwacht hat immer mehr Noteinsätze, seit es in den Bergen Handyempfang gibt, weil die Leute sich weniger vorbereiten, weil sie wissen, wenn etwas passiert, können sie Hilfe rufen, und dann ist alles gut. Wenn ich aber mein Handeln nach dem Wissen ausrichtet, dass keine Rettung kommen kann, dann verhalte ich mich anders. Was ist, wenn das Handy aus ist, wenn der Empfang doch nicht da ist? Was ist, wenn das Krankensystem überlastet ist?
Das sind im Grunde keine großen Sachen, sondern einfache Dinge. Auch die Frage: Wie gebe ich auf meine Gesundheit acht? Wobei ich gar nicht so sehr auf meine Gesundheit achten muss, denn es gibt ja das medizinische System. Es ist zwar nicht perfekt, aber im Vergleich zu vor 200 Jahren sind wir auf jeden Fall schon sehr viel weiter und ich kann mir sehr viel mehr erlauben. Gleichzeitig wissen wir aber heute auch sehr viel mehr darüber, wie man überhaupt gesund bleibt. Warum nicht dieses Wissen nutzen und Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen, was - so könnte man sagen - auch wieder Weltfürsorge ist, weil ich weniger Ressourcen der Welt brauche, die dann wieder anders eingesetzt werden können. Natürlich wird jeder von uns mal krank, jedem kann etwas passieren, auch dem, der am meisten acht gibt.
Es geht also eher nicht darum, das jetzt zu so einem Hyperding zu machen, wo es die ganze Zeit nur um die eigene Gesundheit geht, gar nicht. Aber es ist zum Beispiel klar, dass jemand, der raucht, tendenziell für die Gesellschaft eine höhere Belastung ist als jemand, der nicht raucht. Das gleicht er vielleicht durch den Steuersatz auf die Zigaretten aus. Dadurch ist das vielleicht okay, dass jemand raucht. Sagen wir mal, das wäre nicht der Fall und sagen, hier macht jemand etwas, was irgendwie gesundheitsschädigend ist, das halten wir als Gesellschaft aus, das ist völlig legitim, in einer so großen Gesellschaft, das Leute auch Sachen machen, die der Gesundheit abträglich sind. Ich kann auch sagen: „Nein, ich mache das nicht, ich übernehme die Verantwortung für mich, für meine Gesundheit und auch für die Menschen um mich herum, weil es natürlich für die auch Leid bedeutet, wenn ich im Krankenhaus bin oder viel früher sterbe.

Die Weltfürsorge beginnt für mich im ganz Kleinen. Es können z. B. ökologische Sachen sein, so dass ich gucke, wie ich mich so verhalte, dass ich die Welt nicht weiter zerstöre, aber auch z. B. das, was du vorhin gemacht hast, Maxi, was ich auch oft mache: Müll aufzusammeln, also die Welt ein bisschen zu verschönern. Oder ich unterstütze andere dabei, dass es ihnen gut geht. Ich sorge dafür, dass es meiner näheren Umgebung gut geht. Ich muss nicht die ganze Welt positiv beeinflussen. Aber ich handle, hinterlasse meine positive Energie in der Welt und nehme dies auch wahr. Da können wir wieder auf das Wildnisthema zurückkommen. Von meinem Lehrer Uwe Belz habe ich viel gelernt über “Caretaking”, also das Prinzip der Fürsorge auch für die Welt um sich herum, z. B. einen Ort, den man immer wieder aufsucht, und um den man sich kümmert. Und man schaut, wo gehen die Tiere lang, wie kann ich ihnen das vielleicht erleichtern? Oder kann ich eine gute Energie hinterlassen an dem Ort. Das ist aber eine extrem schwierige Sache. Ich habe einmal darüber geschrieben, dass mir Uwe die Aufgabe gegeben hat, Caretaking zu betreiben bei ihm im Camp und der Natur dort zu helfen, z. B. Sprösslingen beim Wachsen zu helfen, indem sie mehr Licht bekommen.
Aber es sind sehr schwierige Entscheidungen, die man trifft. Man fühlt sich, als wüsste man nicht genug über die Zusammenhänge der Natur. Was ist wirklich Hilfe? Welcher Pflanze helfe ich jetzt, denn es kann sein, dass ich, um einer Pflanze zu helfen, eine andere entfernen muss. Damit der neue Spross wachsen kann und genügend Licht bekommt, muss ich vielleicht den Ast von einem älteren Baum entfernen. Es ist also etwas, was man fast nur intuitiv lösen kann, weil das Wissen immer beschränkt sein wird. Man nimmt ganz stark wahr, dass man nur limitierte Informationen hat, und dass diese einen auch gleichzeitig in die Irre führen können. Dass man also dadurch, dass man zu wenig weiß und trotzdem diese wenigen Informationen benutzt, falsche Entscheidungen trifft. Das ist eine schwierige Sache, vor die wir Menschen auch immer wieder gestellt sind, wenn wir uns einmischen in die Belange der Welt und dann Jahre später merken, dass das nicht so gut war. Wir verstehen die komplexen Systeme nicht genau, und wir verstehen die menschlichen komplexen Systeme nicht genug, aber auch die natürlichen Systeme, z. B. wie der Wald funktioniert. Auch mit diesem ganz großen Hindernis und der Beschränktheit unseres Verständnisses empfinde ich es trotzdem so, dass man den Mut haben kann, zu handeln und mit guter Energie Fürsorge zu betreiben. Gleichzeitig aber mit der ständigen Reflexion: Was habe ich getan? Was ist passiert durch mein Handeln?
Ich habe ja Freiheit schon mehrmals genannt; die Praxis ist auch eine Möglichkeit, mehr Freiheit zu entdecken: Physische Freiheit, Handlungsfreiheit, geistige Freiheit, Freiheit von Konventionen oder Dogmen oder Ideologien. In Grunde sind also viele Sachen, die wir machen, Investitionen in die Freiheit. Da aber ist Freiheit nicht unbedingt das Allerwichtigste, vielmehr eine Sache, die immer wieder aufkommt, wenn ich Leute frage, was ihnen in der Praxis wichtig ist, was ihnen etwas bedeutet. Da ist der kleinste gemeinsame Nenner, dass die Leute ganz oft sagen, sie haben dadurch mehr Freiheit gewonnen in ihrem Leben.Sie empfinden dadurch mehr Freiheit.
Eine Form der Freiheit ist die Bedürfnislosigkeit. Wenn ich nicht viel brauche, dann bin ich allein deswegen schon frei, weil ich zu weniger gezwungen werden kann, weil weniger Sachen an mir ziehen können. Und deswegen empfinde ich das Üben von Bedürfnislosigkeit auch als eine grundlegende Idee unserer Praxis. Das kann z. B. so etwas sein wie Fasten oder auch Kältetraining, aber auch dieses Nichtstun, dass ich nicht den Bedarf habe, etwas zu tun oder zu konsumieren, dass ich nicht immer Stimulibedarf von außerhalb habe, sondern dass alles okay ist. Mir geht es gut. Und dieses Nichtstun kann auch eine Unverführbarkeit erzeugen. Unverführbarkeit als andere Form der Willenskraft oder besser: die andere Seite.
Willenskraft bedeutet auf eine gewisse Art und Weise etwas festzuhalten, wie muskuläre Anspannung. Ich will das! Die Unverführbarkeit ist die Entspannung. Die Dinge ziehen einfach an mir vorbei. Ich lasse mich nicht verführen von den Sachen, die glitzern, von den Sachen, die sich vielleicht erstmal gut anfühlen, die aber im Endeffekt gar nicht das sind, worum es mir geht oder was ich eigentlich will. Klassiker hier sind Drogen oder digitale Drogen wie Likes auf Social Media oder das nächste Youtube-Video. Das Digitale ist ja sehr auf Verführbarkeit aufgebaut, es geht immer weiter. Und der nächste Stimulus wartet nicht mal um die Ecke, sondern gleich ein paar Zentimeter vor mir. Das kann leicht verführen, das ist wie ein Kasino, das genauso auf Verführbarkeit aufgebaut ist. Oft steht aber bei diesen verführerischen Dingen der Einsatz nicht in Relation zum Gewinn. Ich schenke z. B. YouTube meine Zeit und lasse mich treiben. Aber ist es das wert?
Bei YouTube gibt es unzählbare wunderbare Videos, ganz großartige Konversationen oder Dokumentationen. Wenn ich mich auf das, wo ich hin will, konzentrieren kann und zugleich unverführbar gegenüber den anderen Sachen bin, dann zeugt auch das von Willenskraft und Fokus. Wenn ich aber verführbar bin und von hier nach da springe und meine eigene Richtung komplett aufgebe, dann komme ich möglicherweise wieder in die Spirale der verlierenden Bedeutung und fühle mich wieder so, als würde ich manipuliert werden, als würde ich nicht die Entscheidung darüber treffen, wo mein Leben lang geht, weil ich verführbar geworden bin.
Deswegen ist die Willenskraft aus meiner Perspektive das, was NACH der Unverführbarkeit kommt. Es gilt zunächst, unverführbar zu sein, die Dinge vorbeirauschen zu lassen. Und DANN kann ich mein Sein lenken auf etwas, was ich tun will.

Maxi:
Woher nimmst du die Unverführbarkeit? Wie kultivierst du sie?

Joseph:
Zunächst durch Wahrnehmung. Man nimmt wahr, dass etwas gerade an einem zieht. Es gibt da etwas, das die Aufmerksamkeit möchte, wonach man vielleicht sogar ein Verlangen hat, z. B. auf das nächste Youtube-Video zu klicken oder die nächste Zigarette zu rauchen. Das ist im Grunde wieder Meditation, dass man wahrnimmt und eine Entkopplung hat von Stimulus und Aktion oder von Schrei und Antwort. Die Zigarette poppt in meinem Geist auf, und dann nehme ich sie und rauche sie. Durch Meditation lernt man, einen Moment der Pause zu haben und dadurch wieder Entscheidungsfreiheit zu gewinnen. Die Zigarette poppt in meinem Geist auf - aha, das passiert also. Jetzt kann ich das wahrnehmen und kann es auch wieder ziehen lassen. Wenn das ein sehr starkes Verlangen ist, eine sehr starke Verführung, dann mag es länger dauern, bis es wieder zieht. Aber wenn das was Kleines ist, dann kann es auch nach einer Sekunde wieder vorbei sein. Das ist eine ganz wichtige und wunderbare menschliche Fähigkeit, dass wir diese Pause einbauen können und dadurch merken, dass wir nicht die Sklaven unseres eigenen Geistes, unserer Gedanken sind. Sondern die Gedanken steigen auf oder das Verlangen nach etwas oder irgendwas glitzert, und dann kann ich immer noch nein sagen. Man kann so viel darüber diskutieren, inwiefern wir einen freien Willen haben oder nicht. Das ist im Grunde eine Diskussion, bei der man zu keiner wirklichen Antwort kommt und vielleicht auch aneinander vorbeiredet, weil das auf einer linguistischen Ebene, einer philosophischen Ebene, auf einer neurowissenschaftlichen Ebene besprochen werden kann. Wir können aber zu dem Verlangen, dass in uns aufsteigt, Nein sagen. Wir können es üben, Nein zu sagen, unverführbar zu sein. Man könnte sagen, die Willenskraft heißt, Ja zu sagen zu Dingen, das zu üben: Ja, ich will das. Die Unverführbarkeit ist zu üben, Nein zu sagen. Wenn ich beides ins Verhältnis bringe, in die Balance zwischen Ja und Nein, entsteht dadurch wieder Freiheit und die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Der erste Schritt, um die Unverführbarkeit zu üben, ist langsamer zu agieren. Sind die Dinge schnell, werden wir robotisch. Dann passieren Dinge wie von selbst. Und dann passiert das, was am lautesten schreit, was sich als Erstes vor unseren Geist schiebt.
Zuvor habe ich schon einmal gesagt, dass ich mit diesen Imperativen in eine Situation komme, die für mich schwer lösbar ist. Ich empfinde es als ein Muss, Verantwortung zu übernehmen, aber gleichzeitig argumentiere ich dafür, nicht zu viel mit Muss und Soll über das eigene Selbst zu sprechen. Das ist eine ambigue Situation oder eine ambivalente Situation. Ambivalent also, wenn man sich so fühlt, als würde man in zwei verschiedene Richtungen gezogen werden. Oder ambigue, dass zwei Dinge gleichzeitig wahr sein können, die sich gegenseitig ausschließen. Wie kann das sein? Wir mögen es nicht, wenn es zwei Dinge gibt, die beide logisch und richtig sind, bei denen wir nicht klar sagen können, dass eines richtiger oder eines richtig und eines falsch ist.
Dieses Paradox können wir nicht ergründen. Um aus dieser unlösbaren Situation herauszukommen, entscheiden wir – Das ist richtig, das ist falsch – wider besseren Wissens. Vor Kurzem gab es bei uns eine Diskussion darüber, wie das ist mit der Idee, dass man sehr divers trainiert, ich aber gleichzeitig sage, es ist sinnvoll, sich auf bestimmte Sachen zu fokussieren und in bestimmte Dinge reinzugehen. Und es klingt wie etwas Ambivalentes, wie zwei Dinge die nicht zusammen existieren können. Aber dem ist nicht so, denn es kommt darauf an, wie man seine Zeit einteilt und wie man die Praxis in Perioden aufteilt, dass man also eine Zeit lang mehr so agiert und dann wieder mehr so agiert. Man kann sich aber so fühlen, als wäre man in einer Situation, in der es schwierig ist zu entscheiden: Soll ich eher alles Mögliche machen, oder soll ich eine Sache trainieren, und mich darauf fokussieren? Im Endeffekt ist wieder die Intuition entscheidend. Vielleicht kann auch jemand helfen, der erfahrener ist, und vielleicht ist es letztlich gar nicht so wichtig, die absolut richtige Entscheidung zu treffen. Es ist auch eine große Fähigkeit, eine Toleranz für Ambivalenzen zu entwickeln, damit zurecht zu kommen, dass wir zum Beispiel in einer Gesellschaft leben, in der verschiedene Werte aufeinanderstoßen, die nicht miteinander vereinbar sind. Wenn ein Wert für uns Freiheit ist und ein Wert ist für uns Gleichheit, dann beißt sich das ein bisschen.
Gleichheit und Freiheit. Was ist uns wichtiger? Dass sich jeder so frei entfalten kann und machen kann, wie er will und dass dadurch vielleicht auch große Ungleichheiten entstehen? Oder was ist das für eine Gleichheit, von der wir sprechen? Aber es ist auch eine sehr kraftvolle Gesellschaft, die mit so einer Ambiguität leben kann, weil dies uns nämlich erlaubt zu sagen: Wir wissen das auch nicht. Die Dinge sind auf einer Ebene, aber das eine ist so, das andere so. Sie kommen vielleicht hier nicht ganz zusammen, trotzdem ist das eine nicht wichtiger als das andere. Es ist also wieder die Balance, in der wir Zuflucht suchen.
Es ist ganz interessant, sich selbst dabei zu beobachten, wie oft man sich eine Meinung bildet oder denkt, man hat ein bestimmtes Wissen, nur, um nicht in diese ambivalente Situation zu rutschen. Also Mut dazu, dass man es auch nicht weiß. Wir haben gerne Meinungen zu etwas. Das ist auch eine Übung, in Freiheit zu sagen: “Das weiß ich nicht. Dazu kann ich nichts sagen.”

Maxi:
Eine wichtige Sache bei deiner Praxis ist die Veränderung oder die Dynamik. Es kommen neue Sachen hinzu, alte fallen weg oder du änderst die Organisation oder Sonstiges.

Joseph:
Die Praxis ist auf jeden Fall ein lebendes Wesen, nichts Festes. Sie hat diese Philosophie, die sich natürlich auch verändern mag, aber die Inhalte verändern sich, sind nicht immer gleich. Und das, was ich zeige und beibringe, hat natürlich auch damit zu tun, was gerade in mir stattfindet. Gleichzeitig hat es aber auch damit zu tun, was ich glaube, was gut ist oder was bedeutungsvoll ist für die Leute. Meine eigene Praxis, also das, was ich persönlich für mich mache, verändert sich auch immer wieder. Und so ist die Praxis ja auch entstanden: Ich habe gemerkt, dass ich ein Interesse daran habe, das Leben an sich zu erkunden und viele Sachen zu machen. Und wenn ich eine Sache viel gemacht habe, dann gucke ich einen anderen Teil der Karte an. So verändert sich das immer wieder. Es ist auf jeden Fall so, dass ich mit jemandem, der vor sechs Jahren da war, damals andere Sachen gemacht habe, als ich jetzt mache. Wobei aber die grundlegende Philosophie sehr ähnlich oder gleich ist. Manchmal muss ich es nochmal explizit sagen, dass es im Grunde nicht um die Dinge geht, die wir machen, dass sie die Praxis nicht ausmachen. Die Philosophie macht die Praxis aus, die Herangehensweise. Nicht das, was da spezifisch gemacht wird. Das kann sich verändern. Da entstand bei einer Diskussion, die jetzt schon viele Jahre her ist, der Name für die Berliner Gruppe, das Gruppentraining in Berlin: “Gruppe mit unklaren Zielen”, weil wir darüber gesprochen haben, was wir eigentlich machen, was unser Ziel ist. Meine Argumention dazu war, dass es mehr um die Idee geht, nicht darum, z. B. bestimmte Übungen auszuführen, sondern die Übungen sind auswechselbar. Das hat aber eine Diskussion erzeugt, weil ich gemerkt habe, dass für viele Leute die Übungen nicht auswechselbar sind. Für sie sind wirklich die expliziten Übungen wichtiger. Ich glaube aber, dass das eher bei Anfängern so ist, und das ist völlig ok. Auf einer Ebene, wo man sich schon länger damit beschäftigt, werden die Übungen an sich immer weniger wichtig. Natürlich ist es in dem Moment wichtig, wenn ich z. B. Klavier spielen lerne. Aber das Unterschwellige, das Fundament, ist die Philosophie dahinter, die Herangehensweise. Wenn dieses Fundament das gleiche ist, dieses Praktizieren, kann dann auch jemand, der Klavier spielt mit jemandem sprechen, der Holz fällt; und der kann mit jemandem sprechen, der Computerprogramme entwirft.
Die Entscheidung darüber, was man macht, ist die Antwort auf die Frage nach dem Warum: Warum mache ich etwas; was mache ich? Eine Übung dazu ist, dass man sich überlegt, was Menschen auf die Frage, warum sie joggen, antworten könnten. Das können ganz viele verschiedenen Antworten sein, auf ganz verschiedenen Ebenen: um abzunehmen, um sich gut zu fühlen, um das Herz zu trainieren, um den Kopf freizubekommen, aus Spaß. Mein Team hat das mal in drei Kategorien eingeteilt, die auch bei der Entscheidungsfällung helfen, was man macht. Das ist nämlich das, woran man selbst Interesse hat, also was einen gerade erfreut, wo das eigene Sein drin steckt; dann das, wo man merkt, dass es gut für einen ist, das tut gut, das ist wichtig für die Gesundheit.

Ich kann also sagen, ich gehe laufen, weil es ist gut für mein Herz oder jemand sagt, “ja ich mag einfach laufen, das macht Spass, ich liebe das”, Die dritte Kategorie wäre es, das zu machen, was einem schwer fällt. Das heißt zu gucken, wo ist das schwache Glied in der Kette, in meinem Können, in meinem Sein. Wenn man da nochmal genauer hinschaut, eröffnen sich oft ganz neue Möglichkeiten. Wenn man merkt: Da mache ich gerne einen ganz grossen Bogen drum; vielleicht kann ich mich mal damit beschäftigen. Und das würde ich auch immer ermutigen, das braucht ganz viel Mut. Wenn man das aber konsequent macht, kommt man an einen Punkt, wo man viel offener wird für alles und nicht gleich die Dinge wegschiebt und sagt: “Nee, das kann ich nicht” oder “Nee, das ist nicht meins”, sondern einfach: “Ja, lass uns das mal ausprobieren. Lass uns das mal machen.” Das verschafft eine ganz große Freiheit. Dann kann man immer noch Nein sagen. Aber wie oft hatte ich in der physischen Praxis schon Leute, die gesagt haben: “Jetzt habe ich ein ganz anderes Verhältnis zum Training und zum Bewegen. Im Schulsport habe ich das gehasst, weil der Schulsport so schlecht war.“ Wenn man da aber nochmal reingeht, es probiert und dazu einen Lehrer hat, der dabei helfen kann, Fortschritte zu machen, sich selbst zu finden und man merkt, dass es vorangeht, man sich verändert, dann ist das ganz kraftvoll. Dann merkt man: Ich bin nicht nur dieser kleine Teil von mir, sondern ich bin viel mehr. Ich kann viel mehr von mir selbst entdecken, auch Teile von denen ich dachte, dass sie mir verschlossen bleiben. Das war für mich auch ein ganz wichtiger Prozess, den ich viel betrieben habe. Dabei habe ich immer wieder geguckt: Was ist das, um das ich immer einen großen Bogen mache?
Und dann den Mut zu haben, sich dem zu stellen, wieder Verantwortung zu übernehmen und sich auch die Freiheit zu nehmen, sich nicht von seinem kleinen Geist einschränken zu lassen, das ist ganz kraftvoll. Mit diesen drei Kategorien kann man agieren. Das ist eine Hilfestellung: Woran hab ich jetzt Interesse, was zieht mich, wofür brenne ich? Was ist das, was gut für mich ist, für meine Gesundheit, für mein Wohlbefinden? Was brauche ich, weil es mein Umfeld erfordert? Habe ich z. B. einen Job, der bestimmte körperliche Voraussetzungen fordert. Was genau ist das, um das ich einen Bogen mache und denke, es ist schwierig für mich, davor drücke ich mich ein bisschen?

Maxi:
Und was für eine Bedeutung haben für dich dann Ziele an sich? Also wenn man vergleicht, zielorientiert zu arbeiten und prozessorientiert zu arbeiten? Und du hast auch einen dritten Begriff genannt: seinsorientiert?

Joseph:
Ja, seinsorientiert. Ich kann zielorientiert sein, ich kann prozessorientiert sein und ich würde dann noch den Begriff “seinsorientiert” einführen. Zielorientiert heißt, dass es um das Ergebnis geht. Prozessorientiert bedeutet, dass man im Gehen ist. Es geht nicht darum, auf dem Berg anzukommen, sondern es geht um die Wanderschaft dorthin. Und beim Seinsorientierten geht es im Grunde nicht einmal um diese Wanderschaft, sondern um den jetzigen Moment, in dem ich gerade bin. Ist man sehr ergebnisorientiert, kann das Schwierigkeiten erzeugen, weil man dann nämlich nicht in den Prozess geht mit dieser gleichen Liebe zum Prozess wie bei der Zielorientiertheit, und das kann dann ein Problem erzeugen, wenn man sein Ziel erreicht. Dass man sein Ziel erreicht und dann nicht mehr weiß, was man machen soll. Das ist im Grunde ein depressiver Moment, wenn man sein Ziel erreicht hat. Deswegen ist das Prozessorientierte kraftvoller, weil es nicht um das Erreichen von Zielen geht, sondern Ziele sind eher wie Wegmarken und man geht von da aus weiter. Ein Ziel hilft aber dabei, sich auszurichten; es ist etwas Gutes. Man braucht nicht immer ein Ziel, aber sie können sehr sinnvoll sein. Wir sind allerdings sehr oft auf Ziele fixiert, denken, dass wir sie brauchen.
Dem widerspreche ich. Wir brauchen keine Ziele. Wenn man Bedeutung spürt im Leben, dann muss man nicht unbedingt ein Ziel haben. Ich stehe trotzdem morgens auf aus dem Bett und mache Sachen. Damit verfolge ich nicht unbedingt ein Ziel, sondern ich bin im Tun und im Sein. Prozessorientiertheit heißt also, dass ich gehe, es entwickelt sich etwas. Das Seinsorientierte kann auch in die Entwicklung gehen, aber das Seinsorientierte, kann auch bedeuten, „ich tue jetzt mal nichts“. Also ich muss nicht unbedingt die ganze Zeit im Prozess sein, sondern das Seinsorientierte heißt, im hier und jetzt sein, nicht in der Zukunft.

Gerade in unseren nördlichen Gesellschaften blicken wir viel in die Zukunft. Ich habe das Gefühl, dass das etwas mit den klimatischen Bedingungen zu tun hat. Wenn man in einem Land ist, wo es Winter gibt, wo es also viel weniger Nahrung gibt, muss man sich viel mehr mit der Zukunft beschäftigen und sich vorbereiten. Wir tun gut daran, über die Zukunft nachzudenken, aber das kann auf Kosten des Moments gehen, auf Kosten des Seins im Jetzt. Dazu gibt es ein schönes Buch, das heißt “Das glücklichste Volk” von Daniel Everett, der bei Natives im Amazonasgebiet ist, in Brasilien, und deren Sprache erkundet. Das ist eine ganz eigene Sprache, sehr, - sehr! - interessant, denn sie ist ganz unmittelbar. Sie sprechen nicht über Dinge, die sie von jemand anderem gehört haben, der etwas von jemandem gehört hat wie: “Der hat gesagt, dass der das gesagt hat.” Es wird nur über das gesprochen, was sie unmittelbar erfahren haben. Und sie sprechen nur ganz limitiert über die Zukunft, vielleicht über die nächsten Tage, aber nicht über die nächsten Jahre. Gleiches gilt für die Vergangenheit, es gibt keine Schöpfungsgeschichte. Das ist sehr interessant, weil es die Theorie gab, dass alle Völker eine Schöpfungsgeschichte haben. Daniel Everett fragt sie, wo die Bäume herkommen und erwartet, dass sie erzählen, die Götter hätten diese geschaffen. Doch antworten sie, dass die Bäume immer da waren, dass sie einfach da sind. Und das ist ganz interessant, weil die Natives so in diesem Jetzt leben. Ihre Umgebung ermöglicht das auch. Sie leben im Amazonas Regenwald; es gibt immer etwas zu essen; man kann immer in den Dschungel gehen und jagen. Und sie scheinen gute Jäger zu sein, viel Jagdglück zu haben, können fischen, bauen Nahrung an, können Nahrung sammeln. Das ist nicht wie unsere Situation hier, wo wir über Monate hinweg kaum pflanzliche Nahrung sammeln können.
Wir müssen vorsorgen. Und ich habe das Gefühl, dass dies zum einen eine ganz andere Sprache erzeugt, aber auch wirklich ein anderes Sein. Dass wir mehr in der Zukunft sind, und dass das bei uns auf Kosten des jetzigen Moments gehen kann. Deswegen schlage ich die Idee der Seinsorientiertheit als Balance zur Prozessorientiertheit vor. Beides ist richtig. Auch die Zielorientiertheit hat ihre Richtigkeit, denn nicht immer geht es um den Prozess, manchmal geht es nur darum, etwas fertig zu machen, und gut ist es. Aber wenn man grundlegend im Prozesshaften und im Sein verhaftet ist, dann ist das ein anderes Sein, als immer nur zum nächsten Ziel zu streben und zu denken, dass man ein konkretes Ziel braucht, um etwas zu tun. Ich bin absolut nicht gegen Ziele, aber ich bin dagegen, dass man Ziele braucht im Leben. Und an das Thema angeschlossen möchte ich auch etwas sagen zu verschiedenen Arten des Prozesses und den verschiedenen Arten des Praktizierens.

Ich kann schauen: Wie viel will ich selbst entdecken? Und wie viele Informationen will ich mir holen, die schon existieren? Um noch einmal auf das Beispiel mit dem Berg zurückzukommen: Sagen wir, ich will auf einen Berg steigen. Da habe ich verschiedene Möglichkeiten. Vielleicht gibt es eine Seilbahn auf dem Berg, in die ich mich reinsetzen und den Berg hochfahren kann. Das wäre eine Variante, für die ich kaum eigene Energie benötige. Vielleicht gibt es einen großen asphaltierten Weg. Den gehe ich hoch. Oder ich nehme einen kleineren Weg und dann nehme ich mir aber einen Führer. Oder ich nehme den kleineren Weg ohne Führer. Oder ich gehe auf die Rückseite des Berges, da gibt’s gar keine Wege, und nehme wieder einen Führer. Oder ich gehe da lang mit einer Karte oder da lang sogar ohne eine Karte. Das sind alles verschiedene Abstufungen davon, wie viele Informationen ich von außen einhole und wie viel Entdeckungsfreude ich selbst habe.
Hier zeigt sich auch, wie zielorientiert ich bin. Will ich lediglich schnell ankommen? Oder bin ich prozess- oder seinsorientierter. In dem Buch “Peak” beschreibt Anders Eriksson, wie man sehr effektiv trainieren und lernen kann. Von diesem grandiosen Buch kann man sehr viel lernen. Darin schwebt eine große Zielorientiertheit. Es geht darum, dass man sich, um etwas zu lernen, um ein bestimmtes Level zu erreichen, einen Lehrer sucht, die richtigen Informationen sucht und entsprechend trainiert. Es ist also keine Grundlagenarbeit, die man macht. Es ist etwas anderes, ob ich mich in einem erschlossenen Territorium bewege, für das es Karten gibt, oder ob ich mich in ein Gebiet begebe, das noch nicht erkundet ist. Das sind persönliche Vorlieben, aber es muss klar sein, dass man diese Entscheidungsfreiheit hat. Man kann selbst entscheiden, wie viel Information man haben will, aber wenn man denkt, es geht immer nur ums Ziel, dann ist man sich dieser Entscheidungsmöglichkeiten nicht bewusst.
Ein Beispiel aus dem Klettern: Wenn ich klettere und es ist eine Route, die schon andere geklettert sind, dann kann ich mir Informationen einholen von anderen Kletterern, so wie: “Hey, wie hast du das gemacht?” Oder vielleicht kann ich mir ein Video angucken oder jemand anderem zugucken, der die Route klettert. Aber ich habe auch die Möglichkeit zu sagen: “Nee, ich will das nicht, ich klettere das einfach selbst.” Ich entscheide, dass ich die Information nicht brauche, weil ich das selbst herausfinden möchte. Es kommt darauf an, wie man da eingestellt ist. Will man etwas selbst entdecken, weil da auch eine ganz große Kraft drinsteckt, oder geht es darum anzukommen, oder merkt man, dass man es nicht alleine schafft und Hilfe braucht, was natürlich oft vorkommt und völlig legitim ist. Vieles lässt sich nur schwer selbst erarbeiten. Klettern ist sehr viel leichter sich selbst zu erarbeiten, weil wir sofortiges Feedback bekommen: Wir fallen runter, wenn wir es nicht richtig gemacht haben. Wohingegen so etwas wie Qi-Gong, wo es ganz viel um das Kultivieren des inneren Zustands geht, viel, viel schwieriger ist selbst zu entdecken. Wo es dadurch auch eine ganz andere Lehrerkultur gibt. In Qi-Gong gibt es eine ganz große Lehrerkultur, kaum einer wird es sich selbst beibringen, ohne von außerhalb Informationen zu holen. Und die allermeisten werden das mit einem Lehrer machen, während es beim Klettern nur wenige wirkliche Lehrer-Schüler-Beziehungen gibt. Man holt sich Informationen von anderen, fragt mal hier, fragt mal da, aber sonst bekommt man so viel Feedback von der Wand, man merkt, was funktioniert und was nicht - das ist eine ganz andere Kultur.
Das heißt, es kommt auch auf die Unternehmung an. Gibt sie selbst Informationen, Feedback oder nicht? Und dann ist es wieder die Entscheidung: Wie viel Hilfe möchte ich? Und wenn man sich dessen bewusst ist, kann man ergründen: Hier geht’s mir um das Ziel, hier will ich einfach den Prozess für mich entdecken oder ich frage, wenn ich Hilfe brauche. Diese ganzen Möglichkeiten habe ich. Wenn man Lehrer ist, dann kann man seine Schüler auch fragen: “Wie viel Hilfe möchtest du haben; wie viel möchtest du selbst entdecken?” Oder man kann zumindest ein Gefühl dafür bekommen, wie dieser Mensch tickt und mit ihm darüber sprechen: “Ich gebe dir mit Absicht nicht alle Antworten, damit du sie selbst entdecken kannst.“ Das ist auch etwas, was ich von meinem Lehrer Uwe gelernt habe, das „Coyote Teaching“, wo es darum geht, Fragen zu stellen, statt Antworten zu geben. Fragen zu stellen, die dem Schüler helfen, die Antworten selbst zu entdecken.

Das erzeugt ein ganz tiefes Wissen, was nicht einfach auswendig gelernt ist, wie Schulwissen. Dieses auswendig gelernte Wissen ist nutzlos, außer man muss irgendwo Tests bestehen. Das Abspulen von auswendig gelerntem Wissen ist etwas ganz anderes als das selbsterfahrene, erarbeitete Wissen, das sich viel tiefer in einem verwurzelt. Ich habe bereits davon gesprochen, auf einen Berg zu steigen, dazu will ich noch etwas sagen. In unserer Praxis – besonders der physischen Praxis - gibt es folgende Struktur: erstens Gesundheit, zweitens fähig sein und drittens Herausforderungen. Das ist so eine Hierarchie, wie eine Pyramide kann man sich das vorstellen, mit der physischen und mentalen Gesundheit als Fundament. Darauf baue ich das Können, das Fähigsein, Skills, Fertigkeiten. Und auf diese Fertigkeiten kann ich mir Herausforderungen stellen, „achievements“, z. B. auf den Berg zu steigen. Als Metapher: Ich habe den Berg, und ich habe auch die Ebene. Und ich werde einfach viel Zeit in der Ebene verbringen, und dann kann ich immer wieder auf den Berg steigen, aber ich sollte mich nicht davon fangen lassen, permanent auf Berge zu steigen. So verliert das Auf-den-Berg-steigen auch seine Besonderheit. Aber wenn man viel im Sein ist, im Prozess, sich viel in der Ebene aufhält, und DANN immer mal auf den Berg steigt, dann entsteht wieder eine sehr kraftvolle Balance zwischen dem Steigen auf den Berg und dem Sein in der Ebene. Also: Gesundheit ist die Basis, auf der ich mein Können erlerne, trainiere; und mit diesem Können stelle ich mir Herausforderungen und gehe sie an.

Maxi:
Mir ist gerade nochmal eingefallen, was du gestern gesagt hast. Dass es bei der Praxis weniger um das Verschmelzen einzelner Disziplinen geht. Sondern es lohnt sich wirklich in eine Disziplin reinzugehen, aber es ergibt Sinn davor eine Basis zu haben, die aus diesen Essenzen besteht, die du aus den Disziplinen rausziehst.

Joseph:
Genau, ich überlege: Was ist die Grundlage, die Basis; wie ist die Welt aufgebaut? Was sind die Grundlagen, die mir ein gutes Verständnis geben, von denen aus ich in die Disziplin reingehen kann und nicht nur aus der Disziplin raushole, was die Grundlagen sind oder was Meta-Prinzipien sind, sondern auch wirklich schaue, was eine Disziplin ist, die mich interessiert, die ich mir genauer ansehen möchte. Sei es Qi-Gong oder Arbeiten mit Holz oder Sprachen lernen oder ein Musikinstrument oder einen Marathon laufen. Wichtig ist, dass ich dann auch wirklich Dinge MACHE, und nicht die ganze Zeit nur auf der Ebene bleibe, wo ich die Karte angucke, sondern reingehe in die Dinge, in die echten Dinge. Gut. Dann war das unser Spaziergang.

Schön, schön.

Gespräch von 2020
Urheberrechte: Joseph Bartz
Gesprächspartner: Maxi Binder
Lektorat: Franziska Funk