Die Reaktion

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Seit es Privatfernsehen gibt, wird tagtäglich visueller Müll in die Häuser der Zuschauer entsendet. Werbefinanziert heißt: die Einschaltquoten zählen. Denn daran orientieren sich die Preise von Werbeblöcken.
Für hohe Einschaltquoten muss ich die Massen erreichen. Dafür suche ich den kleinsten gemeinsamen Nenner. Und der ist nicht sonderlich tiefsinnig.

Moment. Nicht nur das Privatfernsehen agiert so, auch die Öffentlich-Rechtlichen werden oft genug dabei erwischt, wie sie in der Ecke den kleinsten Nenner ausrechnen.

Bei den Öffentlich-Rechtlichen ist der Komplexitätsmix allerdings größer.
Vermute ich. Denn regelmäßig fern gesehen, haben ich das letzte Mal als, ich 8 Jahre alt war.
Ich muss aber auch nicht regelmäßig fernsehen, um zu wissen, dass uns das Privatfernsehen so geniale Schauspiele wie „das Dschungelcamp“ oder „Germany’s Next Top Modell“ gebracht hat.

Oder dass man auf den öffentlich-rechtlichen am Sonntagabend gerne mal einen Krimi sendet.
Mit seinem großen Aufwand und riesigen Produktionskosten hat das herkömmliche Fernsehen einen Hang zur Analyse und Risikoaversion. Man will keine Serien für Millionen Euro produzieren, die dann floppen.
Entsprechend starke Gatekeeper gibt es im klassischen Fernsehen. Da kann nicht einfach jeder ankommen mit seiner Idee. Das muss schon Quoten bringen (oder das Extravagante kommt bei den Öffentlich-Rechtlichen halt zu Zeiten, zu denen ich schon lange schlafe).

Viel freier ist da die Plattform, auf der schon das erste Video den Ton der offenen Tür gesetzt hat: „Me at the Zoo“. Denn hier kann man jeden Scheiß online stellen.
Die Plattform heißt YouTube.
Am Anfang war YouTube keine Konkurrenz für das Fernsehen. Erinnert ihr euch? Die Videoqualität war verpixelt und Videos konnten nicht länger sein, als ein paar Minuten. Viele grundlegende Funktionen der Plattform gab es nicht.
Aber der Technologiefortschritt hat YouTube das Fernsehen einholen lassen.
Alle diese Fortschritte sind Fortschritte der Demokratisierung der Kunstproduktion.
YouTube ist mehr oder weniger eine Plattform ohne Gatekeeper. Man darf hier nichts posten, was Gesetze wie Hassreden übertritt und YouTube hat noch ein paar zusätzliche moralische Filter, die dafür sorgen können, dass ein Video gelöscht wird, aber es gibt niemanden der sagt: „nein, das kannst du nicht hochladen, das guckt sich ja keiner an“. Die Einschaltquoten sind egal.
Nach einiger Zeit fiel dann auch die Beschränkung der Videolänge. Heute können wir auf YouTube Videos in Längen sehen, die weder im Kino, noch im Fernsehen jemals hätten gezeigt werden können und die noch vor ein paar Jahren ein ganzes Regal voll Videokassetten bedeutet hätten.
Darunter fallen so kulturell wichtige Werke wie „They‘re taking the Hobbits to Isengard 10 Hours HD“.

Weiterhin kam das schnelle Internet in alle Haushalte, sowie Computer für jeden mit einer Leistung jenseits von Gut und Böse (aber trotzdem in wenigen Jahren wieder als langsam gelten werden).
Einer der wichtigsten Veränderungen der letzten Jahre war allerdings, dass nun jeder eine Videokamera besitzt. Und diese auch die meiste Zeit mit sich herumträgt.
In der Anfangszeit des Films waren Kameras nicht nur große Viecher, die man nicht mal einfach so herumschleppen konnte, sie waren auch enorm teuer.
Nicht nur die Kamera an sich, sondern auch der eingelegte Film. Tonaufnahmen zum Film gab es am Anfang gar nicht.
Wer einen Film drehen wollte, musste schon wirklich Quoten liefern.
Heutzutage kann jeder drehen und schneiden, und zwar mit dem Equipment, welches er sowieso schon hat.
Wobei man heutzutage auch gar keine echte Kamera mehr braucht. Denn viele Videoproduzenten nehmen einfach ihren Computerbildschirm auf, während sie ein Computerspiel spielen.
Alleine durch die schiere Masse an Inhalt ist YouTube zum Konkurrent des Fernsehens geworden.
Aber auch an qualitativen Inhalten steht es dem Fernsehen nicht mehr unbedingt nach.
Was zum Teil auch an den öffentlich-rechtlichen selbst liegt, welche nun, semi-getarnt, ihre eigenen YouTube Inhalte produzieren. MrWissenToGo zum Beispiel.
Was bis jetzt auf YouTube fehlt, sind richtige Spielfilmserien oder Filme, wie auf Netflix. Und da besonders Produktionen, welche nicht von Funk, dem Content-Netzwerk von ARD und ZDF erzeugt wurden, sondern von unabhängigen Produzenten, welche auf dem freien Markt agieren.
Aber wird es sowas jemals geben? Oder werden Produktionen wie „7 vs. Wild“ welche zumindest den Reality-TV-Produktionen des Fernsehens Konkurrenz machen, die Ausnahme bleiben.

YouTube ist nämlich in die gleiche Sackgasse gelaufen, wie das Privatfernsehen. Wenn nicht noch mehr.

Denn heutzutage ist YouTube weniger eine Plattform, auf der anonyme Akteure Zoobesuchsvideos hochladen, sondern auf YouTube wird richtig Geld verdient. Und wie?
Durch Werbeeinnahmen. Genau wie beim Privatfernsehen.
YouTube schaltet Werbung vor, zwischen und in Videos und gibt einen Teil der Einnahmen an die Videouploader ab. Vergütet wird nach Views. Also wie viele Menschen ein Video geguckt haben.
Der professionelle (im Sinne von, er verdient auf YouTube Geld, nicht auf die Qualität bezogen) Videoproduzent/-uploader hat also ein starkes Interesse daran, Videos mit hohen Klickzahlen zu erzeugen. Sein Einkommen ist genau davon abhängig.
Das bedeutet: Inhalte, welche keine Quote erzeugen, werden vermieden. Wo wir wieder beim kleinsten gemeinsamen Nenner wären.
Das Ganze hat aber noch eine andere Komponente, die das klassische Fernsehen so nicht hat.
In den 90ern hat man in Deutschland eine Handvoll Fernsehsender empfangen. ARD, ZDF, ProSieben, RTL, Kabel 1 etc. Und jeder dieser Sender hatte EINE Produktionen, die gleichzeitig gesendet wurde. Um 8:00 kommen die Nachrichten, um 8:15 „Manche mögen’s heiß“ und so weiter. Wenn ich also erstmal an allen Gatekeepern vorbei bin und zu einer guten Sendezeit laufe, dann haben die Leute meine Produktion auch gesehen. Das stand quasi fest. 8:15 ist der Fernseher an.
Auf YouTube stellt sich plötzlich eine ganz andere Frage:

Wie sorge ich eigentlich dafür, dass irgendjemand mein Video sieht?
Hier kommt der sagenumwobene Algorithmus ins Spiel. Der Gott des Internets, denn seine Wege sind unergründlich.
Die Huldigung des Algorithmus trifft auf die Erforschung der menschlichen Aufmerksamkeit. Was uns ein neues Wort eingebracht hat: Clickbait.
Also dafür zu sorgen, dass jemand auf ein Video klickt. Denn YouTube ist nun mal kein fester Sende-Zeitstrahl wie das Fernsehen, sondern ich kann/muss als Nutzer aktiver auswählen welche Videos ich schauen möchte. Und die Auswahl ist groß. Sie ist unglaublich groß. Der Algorithmus schlägt mir deswegen Videos vor. Aber immer noch mehr als genug, um mich als Nutzer zu überfordern. Und hier kommt der Clickbait ins Spiel:
Wenn der Prostituierte auf dem Straßenstrich steht, zieht er sich entsprechend an, um deine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er will dich geil machen. Und herausstechen unter den Prostituierten. Das ist Clickbait. Clickbait sind Videotitel wie: „Du wirst geschockt sein, wenn du das erfährst …“

Wie schon beschrieben, ist es aber nicht wie der normale Straßenstrich, wo sich entweder jeder hinstellen kann, oder Zuhälter als Gatekeeper fungieren. Es ist vielmehr so als würdest du in einem Haus am Strich warten und aus einem undurchsichtigen Verfahren aus Würfeln, Freierquote und Regeln, die keiner kennt, wird bestimmt, wer kurz auf die Straße geworfen wird, bis ein Prostituierter „gebucht“ wird. Dann kommen alle wieder rein und das Verfahren beginnt von neuem. Kafka heutzutage, er würde über einen YouTuber schreiben.

Es geht also um Klicks, aber es gibt da noch etwas: Zuschauerbindung. Denn es geht auch darum, dass die Zuschauer sich dein Video angucken und am besten hat dein Video eine gewisse Länge, denn so kann Werbung intra-video platziert werden. So wie im Fernsehen. Es geht also darum, dass die Zuschauer nicht wegschalten.

Die professionelle Seite von YouTube, also die Videos von „YouTubern“, welche vermutlich inzwischen einen großen Teil des Traffics ausmachen, wird also nach diesen Kriterien der Klickzahlen und der Zuschauerbindung ausgerichtet.
Denn „YouTuber“ sind nicht zum Spaß auf YouTube. Sie verdienen dort ihre Kohle.
Und da Menschen „für Geld alles tun“ stellt sich die Frage:

Wer ist der beeinflusste? Der Zuschauer? Oder der Content-Creator?

Ein YouTuber wird erst einmal nicht für Qualität und auch nicht für Originalität bezahlt. Sondern für Klicks und Verweildauer.

Qualität und Originalität können helfen. Sie sind zu einem gewissen Grad Grundlage für den Erfolg auf der Plattform.
Allerdings hat das ganze seine Grenzen. Denn viele Zuschauer suchen eben nicht nach den originellsten Inhalten, sondern sie wollen sich einfach berieseln lassen.

Ein ausschlaggebendes Beispiel dafür, dass Originalität nicht unbedingt belohnt wird, und namensgebend für dieses Essay, ist das „Reaktionsvideo“.
Das Reaktionsvideo ist ein Video, in dem der YouTuber auf eine andere Sache reagiert. Meistens ein anderes Video. Dieses Format findet besonders auf Twitch-Streams statt und findet dann als Aufnahme seinen Weg auf YouTube.

Beim Reaktionsvideo schaut sich der YouTube z. B. ein Video an und kommentiert das Video direkt. Meistens sieht man ihn als kleines Bild-im-Bild Video in einer Ecke, oder es wird zwischen dem YouTuber und dem Video, auf das reagiert wird, hin und her geschnitten. Dabei wird das Video immer wieder pausiert, um Zeit zu haben für die Reaktion.

Folgendes Phänomen ist nun auf YouTube sichtbar und wird auch unter YouTubern diskutiert. Der Ablauf des Phänomens ist dabei folgendermaßen:
A) Ein YouTuber lädt „Original Content“ hoch. Also ein Video, welches er selbst produziert hat, ohne Material von anderen YouTubern dafür zu verwenden und welches eine eigene Idee verfolgt.
B) Ein anderer YouTuber nimmt das Video und erstellt ein Reaktionsvideo.

Soweit so gut. Jetzt ist es aber so, dass die Subscriberzahlen von A) und B) sehr verschieden sein können.
Was als wenig gerecht diskutiert wird, ist, wenn YouTuber A ein Video produziert und folgendes passiert: Das Beispielvideo bekommt 200.000 Views. YouTuber B macht eine Reaktion. B ist bekannter und bekommt 300.000 Views auf sein Video, in dem er auf das Video von YouTuber A reagiert. Da YouTuber B insgesamt erfolgreicher ist, bekommt er auch mehr Geld pro Tausend Views (RPM – Revenue per Mille), außerdem sind Reaktionsvideos normalerweise länger, es kann also mehr Werbung bei B als bei A geschaltet werden.
Wir halten das Beispiel einfach und gehen davon aus, dass YouTuber A einen RPM von 3 € hat und YouTuber B einen RPM von 5 €.

Also:

A bekommt 600 €

B bekommt 1500 €

A hat das Originalvideo produziert.
B hat mehr verdient, hat aber nur „nebenbei“ ein Reaktionsvideo produziert.

Unklar ist, wie viel Views durch Reaktionsvideo hin und hergeschoben werden. Ob YouTuber sich durch Reaktionsvideos also Views wegnehmen oder zuschieben oder was auch immer.
Die obigen Zahlen sind nur als ganz grobes geschätztes Beispiel von mir als Außenstehenden zu verstehen. Die Zahlen habe ich mir anhand des Videos „DAS verdienen Reaction-YouTuber mit MEINEN Videos“ von RobBubble (1), sowie weiteren, ausgedacht.

Okay Joseph, Bla bla bla. Warum erzählst du uns das?

Weil mein Punkt ist:
Originalität und Qualität werden in unserer Gesellschaft nicht unbedingt belohnt.
Ja, beides ist wichtig. Aber auf YouTube können wir sehen, wie Künstler sich über Jahre ein Following aufbauen und dann quasi aufhören originellen Content zu erzeugen, da dieser eben nicht die meisten Klicks bringt.

Auch Kinofilme bestätigen, dass Originalität nicht den größten Erfolg bringt.
Die erfolgreichsten Filme in Deutschland im Jahre 2021 waren James Bond Nr. 23042, ein weiterer Spider-Man Film (keine Ahnung wie viele es davon schon gibt), Fast & Furious 9 und Dune. (2)

Der viel gelobte Dune Film von 2021 ist auch so erfolgreich, weil er total auf Sicherheit gespielt hat. Im Vergleich zum als durchwachsen angesehen Werk von David Lynch und dem „wichtigstem Film der nie gedreht wurde“ von Jodorowsky ist der Dune Film von Villeneuve sowas wie ein Sonntags-Tatort.

Unter den in Deutschland zehn erfolgreichsten Filmen des Jahres 2021 ist KEINER, welcher nicht entweder eine Fortsetzung ist oder auf einem Buch basiert.
Es gibt also unter diesen zehn Filmen keinen, bei dem sich jemand hingesetzt hat und aus sich selbst heraus etwas Neues erschaffen hat.

DAS IST DER ZUSTAND DER KUNST HEUTZUTAGE.

In den USA ist das ganze noch schlimmer, denn hier wird die Liste der erfolgreichsten Filme seit Jahren durch Marvel-Filme dominiert. Superheldenfilme also, die alle mit unheimlichem Aufwand produziert sind, aber keine wirkliche Tiefe und Originalität bieten. Es sind Blockbuster aus der Fabrik.

Das Problem lässt sich einfach beschreiben:

Wenn der Weg klar ist, wird er nicht mehr verlassen.

Das bedeutet: Die Studios wissen, was einen Film ausmacht, der mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sehr erfolgreich wird.

An wen allerdings die zig verschiedenen nationalen und internationalen Filmpreise gegangen sind, weckt allerdings Hoffnung. Denn hier wird weiterhin mehr oder weniger auch das Originelle belohnt. Auch wenn Dune 6 Oskars gewonnen hat.
Aber branchenintern scheint der hundertste Spiderman-Film eben weniger Interesse aufzuwerfen.
Genauso wenig werden YouTube-Reaktionsvideos Preise gewinnen, die in Art der Oskars von Kollegen verliehen werden.

Ja, jetzt kommt er, der elitäre Satz. Ihr wartet sicher schon darauf:
Die Masse der Konsumenten möchte einfach nur unterhalten werden, ohne zu sehr herausgefordert zu werden.
Justin Bieber, Marvel-Filme, Reaktionsvideos von Simon Unge, Nele Neuhaus Romane.

Kommen wir wieder zurück zum Reaktionsvideo.
Meine These ist, dass eine sanfte Selbstreferenzierung einer Kunstbranche absolut gesund ist. Filme und Bücher die sich aufeinander beziehen also.
Interessant wird es, wenn diese Selbstreferenzierung überhandnimmt.
Wenn Bücher nur noch aus anderen Büchern entstehen.
Wenn YouTube Videos aus anderen YouTube Videos geformt werden.

Damit verliert diese Branche an Relevanz.

Ein Buch in dem immer wieder andere Autoren zitiert werden, der Autor aber hauptsächlich eine eigene Idee verfolgt und seine eigenen Erfahrungen teilt, ist relevant.
Ein Buch welches nur aus Schnipseln anderer Bücher zusammen kopiert ist, ist irrelevant.

Der Künstler der sich zu sehr in seinem eigenen Medium bewegt, läuft Gefahr in einen Strudel zu fallen und seine Relevanz zu verlieren.
Ein Fotograf sollte keine Fotos fotografieren.
Der Dichter nur als Ausnahme übers Dichten dichten.

Der Tagesaktuelle Journalismus ist ebenfalls stark von Reaktion und Unoriginalität geprägt. Meldungen werden im Wortlaut von Nachrichtenagenturen wie der dpa übernommen, wodurch auf allen Nachrichtenseiten das Gleiche steht. Dadurch wird es für das Konsumieren der Tagesnachrichten irrelevant, welche Zeitung man (im Internet) liest.
Wenn Originalität fehlt, wird man austauschbar.

Ich frage mich:
Ist ein Grund dafür, dass die Menschen gerne Reaktionsvideos gucken, dass sie herausfinden wollen, was jemand anderes über ein Thema denkt?
Ein Phänomen in dem Bereich ist eben, dass Leute das Original gar nicht erst schauen, sondern direkt die kommentierte Fassung des Reagierenden. Die Meinungsbildung wird ihnen direkt abgenommen.
Stellt der Zuschauer dadurch das eigene Denken in den Hintergrund? Oder wird seine Meinung differenzierter, dadurch dass er die Meinung eines anderen erfährt?

Mit Sicherheit nimmt es einem etwas der Unsicherheit des „was soll ich nur darüber denken?“ Denn eine Meinung kennt man nun schon.

Ich bin skeptisch, wenn es zu kommentierten Fassungen kommt.

Auf jeden Fall können diese einem den Horizont erweitern. Gerade wenn ein Experte den Kommentar angefertigt hat.
Die kommentierte Fassung kann auch helfen, sich Dinge zu erschließen, welche viel Auseinandersetzung mit dem Werk brauchen.

Ich scheine nicht der einzige zu sein, der glaubt, dass kommentierte Fassungen die Meinungsbildung beeinflussen. Genau deswegen gibt es ja von Hitlers „Mein Kampf“ heutzutage in Deutschland eben nur eine kommentierte Fassung. Um zu bewirken, dass jeder der das Buch liest den Originalinhalt ablehnt.

Aber auch für den Künstler ist der Fokus auf die Reaktion bedeutungsvoll.
In der natürlichen Hierarchie der Menschen stehen die am obersten, die Entscheidungen treffen. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika baut keine Atomraketen selbst, zieht nicht den Abzug eines Gewehrs, fährt keine Planierraupe und drescht kein Korn. Er oder sie trifft Entscheidungen.

Eine Entscheidung zu treffen und Kunst zu erzeugen, das ist nicht weit voneinander entfernt.

Als stark gilt, wer die Initiative hat.
Der Schachspieler welcher den Mitspieler zu bestimmten Zügen zwingt, hat die Oberhand.

Dostojewskis Werk überdauert die Jahrhunderte. Nicht die Kritiken als seine Bücher herausgekommen sind.
Der Historiker sucht nach diesen Kritiken, um die Zeit besser zu verstehen, in der das Werk verfasst wurde.
Für den eigentlichen Rezipienten des Werks ist es allerdings irrelevant. Aus gutem Grund interessiert keinen normalen Leser von Dostojewski heutzutage was damalige Kritiker über ihn geschrieben haben. Auch eine heutige Kritik seiner Werke ist irrelevant. Die Zeit hat die Signifikanz des Werks bewiesen. Sie muss nicht mehr diskutiert werden.
Die eigentliche Aktion bleibt. Der Reaktion verschwindet im Nebel der Zeit.

In der Hierarchie der Kunst ist der eigentlich schaffende Künstler natürlich immer wichtiger als der Kritiker.
Aber trotzdem zittern die Künstler vor Kritikern. Gerade, wenn diese sich einen Namen gemacht haben. Marcel Reich-Ranicki hatte Macht über die öffentliche Rezeption eines Buches. Günter Grass konnte man irgendwann nur noch mit Reich-Ranicki in einem Zuge denken.
Der Kritiker ist die zweite Ebene des Gatekeepers. Erst gibt es die Gatekeeper die das Werk in seiner Erzeugung oder Veröffentlichung verhindern können und dann diejenigen welche das Werk an der Verbreitung behindern oder unterstützen können. Und das sind, unter anderem, die Kritiker.
Das liegt sicher daran, dass der Mensch etwas auf die Meinung eines Experten gibt. Jemand der professionell Filme anschaut und diese untersucht, von dem kann man die Meinung schon mal kopieren und dann entscheiden, ob man ins Kino geht oder nicht.

Was andere denken, über uns und über andere und anderes, ist uns sehr wichtig.
Solange mir die Meinung anderer zu wichtig ist, werden meine Taten eine Reaktion sein.

Kannst du das Gewicht auf dem Vorderfuß lassen?

Selbst in der Reaktion die Initiative zu behalten. Das ist große Kunst.

Der Shitstorm

Während sich auf YouTube weiterhin viel Original Content findet, ist das soziale Netzwerk Twitter im Grunde ein einziges Reagieren.
Das ist schon Format bedingt. Bei 280 Zeichen kommt kein Original Content bei herum. Höchstens in Form von Aphorismen.
Und mit 280 Zeichen kann man auch keine sinnvollen Konversationen führen. Entsprechend besteht Twitter vermehrt aus der niedrigsten aller Reaktionen: dem Hass.
Der Ton auf Twitter ist komplett Banane. Es ist eine Plattform der Politiker, Journalisten, Extremisten und Techies. Eine Plattform für alle die unruhig sind. Keine Plattform für Künstler.

Große Reaktionsbewegungen wie MeToo haben gesellschaftliche Umbrüche erzeugt. Das # Zeichen als Gruppierungsmöglichkeit hat die Kraft der Masse entfacht.
Das Kuriose an Twitter ist, dass es nicht einfach ist, sich mit 280 Zeichen gut auszudrücken und Missverständnisse zu vermeiden, während gleichzeitig eine ganze Horde an Usern nur darauf wartet, einen Tweet zu finden, auf den sie als Reaktion so richtig schön raufscheißen können.
Twitter ist eine totale Kloake. Es wird mächtig viel aufeinander rauf geschissen.

Reaktionen auf Twitter sind davon gekennzeichnet, dass einem etwas nicht gefällt. Und da generell das Aufwühlende mehr Reaktion erzeugt, wird das Aufwühlende auch in den Zeitungen weit verbreitet.

Die Genderdebatte als Beispiel, eigentlich ein Nebenschauplatz der Geschichte, erhält aus bestimmten Kreisen äußert viel Aufmerksamkeit. Diese Kreise sind nicht nur diejenigen welche pro Gendern sind, sondern auch die ablehnenden Spieler.
Das First-World-Problem mit Sternchen oder Doppelpunkten inklusive Sprache zu erzeugen, ist durch hitziges hin und her reagieren plötzlich etwas, dem große gesellschaftliche Relevanz bescheinigt wird.

Meine Strategie:
Sich nicht ablenken lassen. Die Reaktionen auf solche Tagesdebatten minimieren. Mein eigentliches Tun im Auge behalten.

Es gibt von mir keine Publikation, kein Kommentar, keine öffentliche Meinung über die Corona-Situation.
Ich habe mich ganz am Anfang dazu entschieden, dass ich mich an dem ganzen öffentlichen Reaktionsmassaker nicht beteiligen werde.
Mit Sascha habe ich für den Dialog oder Tod Podcast entsprechend am Anfang die Regel aufgestellt, dass wir nicht über Corona reden.
Diese Zeilen sind im Grunde meine ersten öffentlichen Zeilen, in denen Corona genannt wird (bis auf technische Sachen wie Regelungen für meine Angebote natürlich).
Die Coronazeit ist/wahr geprägt von einem zermürbenden reaktivem Verhalten.
Ständige Situationsveränderungen, täglich wechselnde Schlagzeilen und Verordnungen, machen es schwer Dinge zu erschaffen. Denn erschaffen braucht Zeit. Erschaffen braucht Platz. Dafür reichen nicht 280 Zeichen.
Man hat Schwierigkeiten zu erschaffen, wenn nicht klar ist, ob man morgen noch weiterarbeiten kann.
Das Coronavirus ist der perfekte Terrorist. Es behält immer die Initiative, es ist nicht greifbar, ist überall und nirgends. Man kann gefühlt nur reagieren. Und wenn der Gegenangriff kommt, hüpft es einfach zur Seite und eine neue Reaktion muss erdacht werden.

Wenn der Alltag nicht gesetzt ist, nimmt das Energie davon, Nicht-Alltägliches zu erschaffen.
Es braucht schon sehr viel Fokus, um den Pinsel in die Hand zu nehmen und ein Gemälde zu malen, wenn der Wolf um das Haus streunt und ruft, dass er vielleicht bald reinkommt, vielleicht aber auch erst morgen.

Die Reaktion ist der Tod des Künstlers.

E-Mails, Zeitungen, Politiker, das Finanzamt, das sind Sachen, die den kreativen Prozess stören. Mit diesen Sachen gilt es, gut umzugehen.

Das Smartphone macht aus vielen Nutzern reaktionäre Wesen.

Sie arbeiten, und permanent brummt und bimmelt es neben ihnen auf ihrem Tisch. Es ist ein pavlovsches Gerät.
Siehe dafür auch bei den weiterführenden Links ein Gespräch von Sascha und mir über Smartphones, sowie meine Lebenspraxis-Podcastfolge über das Thema.

Ständiges Reagieren ist schlecht für den Geist.
Wenn du dich selbst kaputt machen willst, werde Journalist für tagesaktuelle Themen. Oder High-Frequency-Trader.
Oder lege einfach sehr viel Wert darauf, was andere über dich denken. Der direkte Weg, um sein Inneres und Äußeres auf bizarre Art und Weise miteinander zu verwursten.

Zieh dich in dich zurück. Dort ist eine unendliche Welt des Schöpfens.

In einer Welt in der Originalität und Qualität nicht unbedingt belohnt wird, gilt es, unerschüttert vor die Tür zu treten. Egal bei welchem Wetter.

Joseph Bartz
2022–05–23

Weiterführendes:

Dialog oder Tod Ep. 25 - Warum hat Sascha kein Smartphone?

Lebenspraxis Podcast - Ep. 8 - Do you need a smartphone?

Fußnoten

(1) RobBubble - DAS verdienen Reaction-YouTuber mit MEINEN Videos

Wie viel verdient man als KLEINER YouTuber? - Travelventure

(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Filmjahr_2021#Top_10_der_erfolgreichsten_Filme