Wie man den Kuchen schneidet

Sowie: Die weiße Leinsphäre

Nun stelle man sich vor, man habe einen Kuchen. Einen runden Kuchen aus einer Springform.

Es geht nun daran, den Kuchen in Stücke zu schneiden, die Gäste warten. Der Kuchen gibt einem aber erst einmal keinen Anhaltspunkt, wie er zu schneiden wäre. Er ist ja rund, er hat ja keinen Makel. Nun führe ich also den ersten Schnitt aus. Der erste Schnitt erzeugt noch kein Kuchenstück, aber der erste Schnitt wird mir einen Anhaltspunkt geben, wie ich den zweiten Schnitt anlegen kann, um das erste Kuchenstück herauszuschneiden, und von da an erzeugt jeder weitere Schnitt ein Kuchenstück, und jeder weitere Schnitt ist von den vorherigen Schnitten beeinflusst. Bis ich am Ende den Kuchen in etwa gleich große Stücke geschnitten habe. Der erste Schnitt ist willkürlich, und auch die anderen Schnitte haben eine gewisse Willkürlichkeit, aber eine Willkürlichkeit auf einer eingeschränkteren Ebene, da ich mich an den vorherigen Schnitten orientiere. Die genaue Linie, die ich schneide, die Moleküle, die ich von einander trenne, das ist recht willkürlich, der ungefähre Ansatzpunkt allerdings nicht. So gibt der erste Schnitt, den ich an diesem Kuchen vollführe, alle weiteren Schritte auf eine Weise vor.

Ich hätte den Kuchen auch anders schneiden können.

Alles hätte anders kommen können.

Nun machen wir das Beispiel etwas komplexer. Anstatt davon auszugehen, dass ich völlig frei in meiner Entscheidung bin, unbeeinflusst, schauen wir uns die Dinge an, die auf meinen ersten Schnitt und daraus folgend auch auf alle weiteren Schnitte am Kuchen einwirken.

Bin ich Links- oder Rechtshänder? Welche Objekte stehen im Raum, besonders welche nah am Kuchen, wie ist die Position des Kuchens im Raum, und wie ist der Kuchen gedreht, was für ein Messer habe ich, welche Art Kuchen liegt vor mir?

Alle weiteren Schnitte sind dann auch davon beeinflusst, wie viele Esser ich erwarte und welche Art Menschen hier mit mir den Kuchen essen. Und so weiter.

Die Entscheidung liegt im Endeffekt immer beim Schneidenden, denn ich kann den Schnitt ansetzen wie ich möchte, der Beeinflussung werde ich jedoch nur schwerlich entgehen können.

Was nun, wenn ich mich entscheide, den zweiten Schnitt ohne Relation zum ersten zu setzen? Ist dies überhaupt möglich? Was, wenn ich mich entscheide, keine geraden Linien zu schneiden, sondern das Messer chaotisch durch den Kuchen zu führen? Was ist, wenn ich mit dem Hammer den Kuchen zerschlage und was übrig bleibt, keine Stücke, sondern nur ein Haufen Krümel sind?

So wird jedoch nur der Verrückte vermögen vorzugehen.

Immer wird jedoch getrennt, was vorher verbunden war. Wenn ich den Kuchen essen möchte, dann wird das, was gerade noch zusammengehörte, getrennt werden, durch das Messer, durch den Hammer, meine Hände oder meinen Mund. Und egal wieviel Kontrolle ich versuche auszuüben, dies wird bis zu einem gewissen Grade immer willkürlich sein.

Ein Kuchenstück esse ich ja auch von einer in die andere Richtung. Wenn ich also den Kuchen in Stücke geschnitten habe, dann gebe ich durch deren Form vor, auf welche Weise diese gegessen werden. Es ist mir nicht möglich, das Kuchenstück von innen nach Außen zu essen, es sei denn, ich teile es wieder und erzeuge aus dem einen mehrere, nun kann ich zwar aus der Mitte des ursprünglichen Kuchenstückes essen, wiederum jedoch nicht aus der Mitte des neu erschaffenen Kuchenstückes.

Wie auch immer ich vorgehe, die erste, teilende Handlung am Kuchen nimmt große Einflussnahme auf alles weitere, was passieren wird.

Das erste Wort, welches in einer Konversation aus mir herauskommt, wird den Weitergang dieser stark beeinflussen. Den ersten Ton, den ich in einer Improvisation spiele, wird den Werdegang dieser in eine Richtung lenken.

Die Willkür ist unser ständiger Begleiter. Es gilt, sich dieser bewusst zu sein.

Ich bin eine weiße Leinwand, auf der die Willkür ihre Farben aufträgt. Dort erschafft sie Systeme, Dogmen, Ideen, Glauben, Methoden und so weiter und so fort. Manches davon mag wahrer sein oder erscheinen als anderes. Doch wenn wir nur weit genug zurück gehen, dann kann man sich nicht mehr vielem sicher sein, außer der Willkür. Der Urknall ein Akt der Willkür. Meine Geburt, ein Akt der Willkür, die Art den Buchstaben F zu schreiben, ein Akt der Willkür. So willkürlich wie Kolonisten damals in Afrika ihre Grenzen durch das Land zogen. In dieser Willkür, in der ich lebe, da glaube ich an bestimmte Dinge, mit der Gewissheit, dass nichts gewiss ist.

Nun male ich also Dinge, die ich glaube, auf meine Leinwand und werde dadurch ein Bildnis, ein Charakter könnte man zum Beispiel sagen. Und dann verrenne ich mich. Dann verrenne ich mich in diesem Bild und denke nun, dass es das Bild ist, was mich darstellt und zeigt, was ich bin, das woran ich glaube und das was ich für richtig halte oder mehr noch: das, von dem ich überzeugt bin, es sei richtig. So fange ich an, mit einer bestimmten Art zu denken und mein Bild so, in Zusammenarbeit mit der Willkür, immer genauer werden zu lassen. Und mit der Zeit trocknen die Farben immer mehr. Und so ist irgendwann die Leinwand voll. Die Farben sind trocken, und ich bin fertig, die Willkür hat ihre Tat vollbracht. Hier, das bin ich, schaut mal her! Ach so, so bist du. So und nicht so, aber nur so. Und nun könnt ihr das Bild anschauen, ihr könnt es gut finden oder schlecht oder wie ihr wollt, aber ändern könnt ihr es nicht mehr, so wenig wie ich. Ihr könnt damit nicht mehr interagieren, ihr könnt es nur akzeptieren.

Was aber, wenn ich vorsichtiger bin mit meinen Farben, wenn ich der Willkür einen Strich durch ihre Rechnung mache, sie nicht zur Ruhe kommen lasse; nämlich jedesmal, wenn ich ihre Farben erlebt habe und dort auf meiner weißen Leinwand etwas entstanden ist, ihre Farben wieder hinfort wische und am Ende nur wieder die weiße Leinwand dort ist. Nicht anderes. Das Nicht-Willkürliche von dem ich mich in das seltsame Land der Willkür aufmache. Meine Burg im Willkürwald. Dort habe ich keine Annahmen, dort bin ich einfach weiß. Noch ist nichts vorgegeben. Der erste Kuchenschnitt ist noch nicht gemacht. Ich bin nicht ich, sondern etwas. Die Buchstaben I, C und H fliegen lose im Raum herum und sind noch nicht in Verbindung zueinander getreten. Nun kann ich mich bemalen lassen, ein Ich werden, für nur kurze Zeit und dann früh genug die Farbe wieder hinfort wischen. So kann ich alles sein und bin gleichzeitig nichts.

Nun ist der Kuchen eigentlich gar nicht rund und die Leinwand keine Wand. Sondern der Kuchen und die Leinwand, sie sind Sphärisch. Die Leinsphäre ist es, die bemalt wird. Aber wenn ich den Sphärenkuchen schneide, dann stehe ich gar nicht zwangsweise außerhalb dieses Kuchens, sondern irgendwo, in ihm oder außerhalb, wo ich möchte, und ich kann den Schnitt auch ansetzen wie und wo ich möchte. So wird dieser erste Schnitt weiterhin alle weiteren beeinflussen, aber mir wird nun bewusst, dass ich in etwas eingetaucht bin, was schön ist. Die Welt. Oder etwas kleiner: unsere sphärische Erde. Und hier nun bin ich, um ein Kuchenstück zu schneiden, um mein Verlangen nach Verstehen zu befriedigen, um einen Anhaltspunkt zu haben, da tue ich einen Schnitt, und dieser Schnitt ist irgendwo in der Sphäre, genau wie die Willkür in mir, der Leinsphäre, ist und dort irgendwo ihre Farben aufträgt. Vielleicht hat sie einen Punkt gefunden in der Sphäre, an dem sie nun am liebsten ihre Farben auftragen will, doch die Willkür bleibt willkürlich. Und so bin ich nun an manchen stellen Weiß, und an manchen ist Farbe in oder auf mir, und die Betrachter schauen natürlich dorthin, wo Farbe ist, wo etwas entstanden ist, und dort ist auch meine eigene Aufmerksamkeit. Schnell, bevor die Farbe trocknen kann, muss ich mich waschen, meine Leinsphäre in den Weißfluss tauchen und dort ein tiefes Bad nehmen. Und dann erlaube ich ihr wieder, anzusetzen, der Willkür, und dann wasche ich mich wieder, und wir spielen unser Spiel. Bis keine Farbe mehr auf der Leinsphäre haften kann und ich nur noch weiß bin und dahin zurückkehre, woher ich gekommen bin. Aus dem Nichts und der Willkür, um mit ihr Eins zu werden.

Joseph Bartz

2016