Das Beobachten steht am Anfang.
Die Beobachtungsgabe zu schulen, ist teil unser Praxis. Warum?
Weil das Beobachten am Anfang der gesteuerten Veränderung steht. Ich beobachte und nehme wahr,
daraus lerne ich über die Welt, ziehe Schlüsse und Verbindungen. Das Altern steht auch für den
Niedergang des Beobachters. Das Beobachten ist die Fähigkeit des Kindes. Für das Kind ist alles neu
und im Zuge des Erwachsenwerdens, nehmen wir immer weniger Dinge als neu wahr. Woraufhin der
Beobachter in den Hintergrund tritt. Wir nehmen also weniger wahr. Wir beschränken uns in unserer
Wahrnehmung oft auf das vermeintlich Essenzielle.
Eine simple Übung, die ich mit Menschen
durchführe, ist das Bestimmen von Bäumen. Viele meiner Schüler haben Kontakt mit Bäumen über das
Klettern und dadurch lernen sie viele Eigenschaften der Bäume kennen, etwa der Beschaffenheit der
Rinde, der Architektur von Stamm und Ästen, oder der Stärke und Elastizität des Holzes. Das genaue
Bestimmen der Bäume kann auf dieser Erfahrung aufbauen, profitiert aber von weiteren Details. Etwa
dem Beschauen der Blätter, welche mit vielen Details aufwarten die eine Unterscheidung von anderen
Bäumen ermöglichen. Denn dies ist die Essenz im Bestimmen der Bäume: Was unterscheidet diesen Baum
von anderen? Was ist die einmalige Kombination an Merkmalen, die es mir ermöglicht zu sagen, dass
vor mir diese und nicht jene Baumart steht. Jetzt merkt der Mensch, dass er zwar sein Leben lang an
Bäumen vorbei gegangen und diese vielleicht auch erklettert ist, aber sich in den meisten Fällen nie
die Zeit genommen hat, um einmal genau zu schauen, genau zu beobachten.
Die Lehre ist: Wir
können unser ganzes Leben an den Dingen vorbei laufen, ohne viel über sie zu wissen und zu erfahren,
wenn wir nicht beobachten. Wenn ich mir jedoch ein Mal die Zeit nehme und die Unterschiede der
Baumarten kennenlerne, wenn ich lerne die Bäume zu bestimmen und zu unterscheiden, dann gibt mir das
ein tieferes Gefühl, in der Welt zu sein. Ein tieferes Gefühl von Verbundenheit entsteht, durch
meine Beobachtung. Anstatt einer Masse an Bäumen sehe ich nun viele verschiedene Arten und kann mit
der Zeit Unterschiede unter Individuen einer Art ausmachen und mehr über Orte durch die dort
angesiedelten Arten erfahren.
Das Beobachten steht für das Sein in dieser Welt. Für ein
empfangendes Sein. Mit dem Beobachten öffne ich mich für die Welt.
Das Beobachten möglichst
umfassend im Leben anzuwenden, verhilft mir, zum Übenden zu werden. Also zu dem, welcher sich
verändern kann. Der Übende ist der Beobachter, der ins Tun schreitet. Der also die Beobachtung
nutzt, um Veränderungen hervorzurufen.
Es gilt, sich selbst zu beobachten. Es gilt, die
Menschen um sich herum zu beobachten und das Menschengemachte. Es gilt, die Natur zu beobachten.
Wenn ich lerne, mich selbst zu beobachten, dann kann ich verstehen, dass ich nicht fertig bin,
sondern veränderlich, wenn ich mich über die Zeit beobachte, werde ich beobachten, dass ich nicht
der gleiche bleibe. Dem Übenden ermöglicht die Beobachtung, sich zu verändern. Er kann die
Beobachtung nutzen und die Veränderung steuern. Anstatt verändert zu werden, kann er auch verändern.
Beobachten heißt, Freiheit zu gewinnen. Es heißt auch, Verantwortung übernehmen zu können und zu
müssen. Am Anfang der Hilfe steht die Beobachtung, dass Hilfe benötigt wird. Im Beobachten steckt
die Reflexion, die Betrachtung der Taten, der eigenen oder von anderen. Wer beobachtet, kann besser
werden.
Joseph Bartz 2017